Campus-Projekt 2024: Tan Dun und eine Ode an den Frieden
30. August 2024Im beschaulichen Weikersheim, einem kleinen Städtchen im lieblichen Tauber-Tal, kamen in den heißen Spätsommertagen 2024 fast 200 junge Musiker zwischen 17 und 27 Jahren zu Proben zusammen: das komplette Bundesjugendorchester und der Weltjugendchor, über 84 Sängerinnen und Sänger aus 41 Nationen.
Weikersheim ist Sitz der deutschen Sektion von Jeunesses Musicales, einer weltumspannenden Organisation, die seit 1945 junge Menschen aus der ganzen Welt zum gemeinsamen Musizieren verhilft - in der Hoffnung, dass Menschen, die zusammen musizieren, später keine Kriege gegeneinander führen werden.
Das internationale Gipfeltreffen der jungen Musiker im Rahmen des Campus-Projekts der DW war schon zum großen Beethoven-Jubiläum 2020 angedacht und wurde damals wegen der Corona-Pandemie verschoben. Seit 20 Jahren bringen das Campus-Projekt und das Beethovenfest Bonn junge Musikerinnen und Musiker aus aller Welt zu Workshops und Konzerten zusammen - der private Austausch über Ländergrenzen hinweg ergibt sich dann wie von selbst.
"Crazy Stimmung" und Knochenarbeit
Eine Woche lang wurde das Programm erarbeitet: Beethovens Neunte Sinfonie, dessen Uraufführung sich in diesem Jahr zum 200. Mal jährte, und eine neues, nur für diese Projekt entstandenes Werk: "Choral Concerto: Nine" von Tan Dun.
Der in Shanghai und New York lebende chinesische Maestro, bereits mit einem Oscar (für die Musik zum Film "Tiger and Dragon") ausgezeichnet, hat das Werk im Auftrag mehrerer internationaler Institutionen komponiert, zu denen auch die Deutsche Welle gehört. Er kam persönlich nach Weikersheim, um dort mit den jungen Musikern sein neuestes Werk und die Neunte von Beethoven zu erarbeiten.
Wenn fast 200 Menschen zwischen 17 und 27 aufeinandertreffen und der Probenplan auch "bunte Abende" im orchestereigenen Party-Keller vorsieht, herrscht am Set definitiv eine andere Stimmung als bei einer Routineprobe eines Profi-Ensembles.
"Dass wir hier alle zusammen sind, dass man viele verschiedene Sprachen spricht und vor allem, dass wir alle jung sind - das ist so toll! Die Stimmung ist einfach crazy!", schwärmt Natascha Botchway, Violinistin des Bundesjugendorchesters, gegenüber der DW. "Wir sind nicht nur gut drauf, wir haben Energie, wir haben so viel Bock auf die Musik! Und das merkt man halt in den Proben."
Es wurde definitiv hart gearbeitet, wie Jörn Andresen, der das Projekt als zweiter Dirigent vorbereitet hat, zufrieden feststellte. "Was sich hier in nur einer Woche entwickelte an Wissen, an intelligentem Spiel und Singen, an Intensität, das ist schon bemerkenswert", sagt er.
Tan Dun im Dialog mit Beethoven
Auch der Komponist und Dirigent Tan Dun, der zur finalen Probenphase aus Shanghai nach Weikersheim anreiste, kam im DW-Gespräch nicht mehr aus dem Schwärmen: "Diese junge Menschen geben mir mehr, als ich ihnen geben kann", lobte er den musizierenden Nachwuchs. "Vor allem: Sie sind so friedlich!"
Die Kunst, friedlich miteinander und mit der ganzen Welt zu leben, ist für Tan Dun die zentrale Botschaft der Neunten Sinfonie - eine Botschaft, die er fortschreiben möchte: "Für mich spricht Beethoven mit dem Geist, er spricht auch mit der Natur und dem Universum - mit der Luft, dem Regen, den Stürmen, dem Wasser. Mein neues Stück ist komponiert aus Sicht der Mutter Erde. Beethoven und Schiller sagen: 'Alle Menschen werden Brüder und Schwestern.' Ich würde gerne sagen: Nicht nur alle Menschen sind Geschwister; auch eine Wolke oder ein Sturm im Wald gehören zur Familie."
Tan Duns "Nine": Dialog zwischen Ost und West
Beethoven war lange auf der Suche nach einem geeigneten Text, bis er sich für Friedrich Schillers Ode "An die Freude" entschied. Auch für Tan Dun begann der Weg zu seiner "Nine" mit dem geeigneten Text. Er wählte altchinesische Lyrik aus und kombinierte Worte von drei bedeutenden chinesischen Dichtern mit einer Auswahl von Schiller-Versen. So entsteht bereits auf der Textebene ein Dialog zwischen West und Ost. "Einige Zeilen stammen aus taoistischen und buddhistischen Traditionen", so Tan Dun, der sich schon sein ganzes Leben kulturell zwischen Europa und Asien bewegt. Einige Worte seien nur Klang, quasi "Unsinn". Der größte Klang liegt für ihn in der Stille. Dabei bedient sich Tan Dur der gleichen Orchesterbesetzung und der gleichen Chorstärke wie seinerzeit Beethoven. "Ich nehme seine Instrumente, aber entwickle eine ganz andere Sprache", sagt der Komponist.
Die Musik ist "cool" und "zugänglich"
"Dieses Werk ist ganz anders, als alles, was ich bisher gespielt habe", so die Violinistin Natascha Botchway. "Ich finde, es hat sehr viel Energie und auch Emotionen. Es ist streckenweise auch sehr tänzerisch und einfach sehr, sehr cool!"
"Menschen, die viel in Konzerte mit neuer Musik geht, haben häufig ein gewisses Rezeptionsproblem: Bis man die Sprache eines Komponisten verstanden hat, ist der Satz vorbei, und dann hat man keine Chance, den zum zweiten Mal zu hören", analysiert Tan Duns Kollege Jörn Andresen. "Das wird bei diesem Werk anders sein. Bei aller Komplexität und Vielschichtigkeit ist es sehr zugänglich für den Hörer."
Jörn Andresen hört bei Tan Dun gewisse Einflüsse von Carl Orffs "Carmina Burana" oder den rhythmusgeladenen Werken Igor Strawinskys heraus, attestiert aber dem Werk und seinem Autor eine "ganz eigene, besondere Sprache": "Es ist eine spannende Melange von fernöstlicher Religiosität und europäisch geprägter Orchester-Klangkultur in diesem Werk, eine wunderbare Synthese! Es gibt auch eine starke Körperlichkeit in dieser Musik: griffige Rhythmen, wunderschöne Klangfarben, die regelrecht aufblühen."
Nach der umjubelten Premiere des Werks am 28. August 2024 in der Tauber-Philharmonie, Weikersheims Konzertsaal, ging es weiter auf Europa-Tournee, mit Stationen in "Eins-A-Locations" wie der Elbphilharmonie Hamburg, der Berliner Gedächtniskirche und dem Amsterdamer Concertgebouw.
Die große Finale findet am 7.September beim Beethovenfest Bonn statt. Dieses Konzert wird von der DW auf dem YouTube-Kanal DW Classical live gestreamt.