China kämpft gegen soziale Spaltung
27. Dezember 2005In den 1970er Jahren legte Deng Xiaoping den Grundstein für die chinesische Reformpolitik. Schon damals hielt der politische Führer es für unvermeidbar, dass bestimmte Teile der Bevölkerung zuerst reich werden müssten, um die Entwicklung des Landes voranzutreiben. Dieses Prinzip, das die Grundlage des rasanten Wachstums der vergangenen Jahre darstellte, könnte China nun zum Verhängnis werden. Die immer größeren Unterschiede zwischen armen und reichen Bevölkerungsteilen drohen soziale Unruhen zu provozieren.
Wirtschaftliche Erfolgsbilanz
Im Grunde kann die chinesische Regierung eine beachtliche Erfolgsbilanz für die vergangenen drei Jahrzehnte vorlegen. Die Wachstumsrate erreicht regelmäßig neue Höhen und könnte im Jahr 2006 bei bis zu neun Prozent liegen.
Schon 2004 soll das Bruttoinlandsprodukt Chinas im weltweiten Vergleich auf Platz vier gelegen haben. Zudem konnten in den vergangenen zwei Jahrzehnten mehr als 200 Millionen Menschen aus der Armut befreit werden.
Hilfslieferungen eingestellt
Mit der anwachsenden Wirtschaftskraft verändert sich auch Chinas Rolle im Gefüge der internationalen Institutionen. So kam im April 2005 in Shenzhen in der Nähe von Hongkong die letzte Hilfslieferung des Welternährungsprogramms (WFP) der Vereinten Nationen an.
30 Jahre lang waren die UN im Kampf gegen den Hunger in China aktiv. Schon vor einigen Jahren wurde China zum Geberland. Nach der Einstellung der Hilfe sollen die Erfahrungen aus der Arbeit des WFP in China in andere Länder übertragen werden.
Doch die sozialen Probleme, die in der Mitte und im Westen des Landes am stärksten zu spüren sind, werfen einen Schatten auf die beachtlichen Entwicklungserfolge. Betrachtet man etwa das Bruttoinlandsprodukt im Verhältnis zur Bevölkerungszahl, so bleiben pro Kopf nur rund 1000 Euro - in Deutschland sind es 27.000 Euro.
Landbevölkerung stark benachteiligt
Besonders für die 800 Millionen Menschen, die auf dem Land leben, verbessert sich die Lage nur langsam. Die Statistik zeigt, dass Menschen in der Stadt rund drei Mal so viel verdienen wie die Landbevölkerung. Zudem erwirtschaftet das reichste Fünftel der Bevölkerung die Hälfte des Gesamteinkommens.
Auch bei der Lebenserwartung gibt es gravierende Unterschiede: Die Stadtbevölkerung lebt etwa fünf Jahre länger als die Menschen auf dem Land. Ein wichtiger Grund dafür sind die sozialen Sicherungssysteme: Während die Hälfte der Stadtbevölkerung eine Krankenversicherung hat, sind in ländlichen Gegenden nur 15 Prozent der Einwohner versichert. Der UN-Repräsentant in China, Khalid Malik, warnt vor den Konsequenzen: "Wenn trotz nationalen Wachstums die Armen und Benachteiligten zurückgelassen werden, führt dies nicht selten zu sozialen Unruhen."
Reformen schaffen neue Probleme
Um die Probleme auf dem Land zu lösen, hat die Regierung eine Reihe von Strukturreformen auf den Weg gebracht. Dazu gehört auch die Abschaffung der schon seit der Kaiserzeit bestehenden Agrarsteuern, die an die Gemeinde gezahlt werden müssen. Ab Ende 2005 wird diese Steuer nicht mehr fällig. Dadurch sollen die Einkommen der Bauern steigen, da diese besonders von der Armut betroffen sind.
Doch schon als die Agrarsteuern in den vergangenen Jahren schrittweise gekürzt wurden, kam es zu neuen Problemen, erklärt Christian Göbel vom Institut für Ostasienwissenschaften an der Universität Duisburg-Essen: "Es gab zu lange keine Mechanismen, um den Einkommensausfall auf der lokalen Ebene auszugleichen."
Parteikader erfinden illegale Abgaben
Folglich haben die Parteikader vor Ort andere Wege gefunden, um die Finanzierungslücken zu schließen - etwa durch illegale Abgaben und andere Belastungen, die meist wieder die Bauern betreffen. Zugleich werden aufgrund der fehlenden Gelder die Sozialsysteme, die von den Gemeinden finanziert werden, weiter in Mitleidenschaft gezogen.
Entscheidend für die zukünftige Entwicklung Chinas wird es sein, ob die Regierung genügend Wohlstand schaffen und diesen gerecht verteilen kann, bevor soziale Unruhen und Proteste letztlich das Wachstumsziel vereiteln.
Zwar hat sich die Regierung in ihrem neuen Fünf-Jahres-Plan den ambitionierten Vorsatz gefasst, die teilweise kaum existenten sozialen Sicherungssysteme auszubauen und nicht weiter auf rücksichtsloses Wachstum zu setzen. Andererseits zeigt nicht zuletzt die jüngste Affäre um den verseuchten Songhua-Fluss, in deren Zusammenhang die Behörden lange die bevorstehende Katastrophe ignorierten, dass es in Peking und bei den lokalen Behörden zu einem grundsätzlichen Umdenken kommen muss.