Zwei Kriege sind zuviel
28. November 2006DW-WORLD.DE: Wie schätzen sie die Situation in Afghanistan ein? Ist der NATO-Einsatz gescheitert?
Professor Christopher Hill: Nein, aber die Situation ist zweifellos ernst. Nach dem 11. September 2001 sah sich der Westen gezwungen, nach Afghanistan einzumarschieren. Dafür gab es einen breiten Konsens. Aber ich bin mir sicher, dass der Westen die Konsequenzen eines Regimewechsels unterschätzt hat - genauso wie im Irak, dort allerdings aus anderen Gründen. Im konventionellen, militärischen Sinne war der Sieg in Afghanistan relativ einfach. Aber zu entscheiden, was dann passiert, ist immer wichtig. Das hätten wir wissen müssen. Und während im Irak die Partei Saddam Husseins recht einfach aus den Angeln gehoben wurde, haben wir es in Afghanistan mit einem gestürzten Regime zu tun, dass es geschafft hat, zurückzuschlagen. Die Folge ist, dass wir jetzt auf lange Sicht in Afghanistan bleiben müssen, um zu verhindern, dass die Taliban in Teilen des Landes wieder an die Macht kommt - wenn das nicht schon geschehen ist.
Gescheitert sind wir noch nicht, aber es könnte sehr schnell dazu kommen. Das hängt auch davon ab, als was genau man die ursprünglichen Ziele der Mission betrachtet. Wenn das Ziel war, die Taliban zu stürzen, dann war dies sicherlich zunächst ein Erfolg, aber das muss natürlich langfristig gesehen werden. Falls das Ziel war, Afghanistan in ein demokratisches Paradies zu verwandeln, dann war dies ganz klar eine naive Vorstellung.
Man spricht bereits von der "Irakisierung" Afghanistans. Teilen Sie diese Auffassung?
Dass sich die beiden Konflikte gegenseitig beeinflusst haben, ist zweifellos richtig. Al-Kaida und ihre Sympathisanten betrachten Afghanistan und Irak als eine gemeinsame Front im Kampf gegen den Westen. Die Bedingungen für das Militär sind dagegen völlig verschieden. Im Irak haben wir es mit Guerillas zu tun, die aus vielen verschiedenen Gruppen bestehen. Diese benutzen ihrerseits die Besatzungstruppen als eine Art Fußball, den sie herumtreten, um sich gegenseitig Probleme zu schaffen. In Afghanistan haben wir dagegen einen viel intensiveren Krieg. Nach meiner Kenntnis sind die Britischen Streitkräfte dort in den vergangenen drei bis sechs Monaten in die härtesten Kämpfe seit 1945 verwickelt.
Gibt es konkret, aber auch im generellen politisch-strategischen Bereich Dinge, die man radikal ändern müsste, um die Situation in Afghanistan umzudrehen oder zu verbessern?
Niemand denkt an einen kompletten Abzug und die damit verbundene Möglichkeit, dass die Taliban in Teilen Afghanistans oder sogar im ganzen Land wieder an die Macht kommen.
Ich denke, die einzige realistische Option ist, weiter die Befriedung des Nordens und Westens voranzutreiben und sich im Süden und Osten auf Schadensbegrenzung zu beschränken. Das ist natürlich sehr problematisch und kompliziert im Detail, da bin ich kein Experte. Aber mir ist auch bewusst, dass wir einfach nicht die Truppen und die politische Unterstützung haben, um über einen langen Zeitraum, unter schwierigen Bedingungen, gefährliche militärische Operationen zu unternehmen. Britische Soldaten im Feld sind unter erheblichem Druck, die Situation ist logistisch, finanziell und politisch angespannt.
Sollte sich die britische Afghanistan-Politik ändern?
Die politische Klasse sollte endlich realisieren - wie es das Militär schon seit Monaten fordert -, dass wir nicht zwei Kriege auf einmal führen können. Großbritannien muss sich aus dem Irak zurückziehen, wenn es in Afghanistan besser Fortschritte machen will. Ich fürchte, dass es in Afghanistan aufgrund der schwierigen Umstände bei den britischen Truppen sonst bald zu einer Kampfmüdigkeit kommt - das wissen auch die Taliban und Al-Kaida. Kurzfristig können durch einen Abzug aus dem Irak Ressourcen für Afghanistan freigemacht werden.
Von Seiten einiger anderer NATO-Länder wurde eine Diskussion angestoßen, dass Deutschland militärisch im Süden Afghanistans eingreifen sollte. Muss sich Deutschland dort engagieren?
Es ist nicht besonders hilfreich, sich in aller Öffentlichkeit darüber zu streiten, wer welche Aufgaben übernimmt. Es zeigt dem Gegner nur, dass der Westen tief gespalten ist, und erlaubt ihm, dies zum eigenen Vorteil zu nutzen. Es war immer klar, dass Deutschland sich in einer schwierigen Situation befindet, nicht nur in Afghanistan, sondern überhaupt was die Frage von Militäreinsätzen im Ausland betrifft. Langfristig kann aber niemand erwarten, dass ein oder zwei Länder wie Großbritannien oder Frankreich ständig in erster Reihe kämpfen, wenn Europa tatsächlich eine tragende Rolle in der Welt anstrebt. Die europäischen Länder - und nicht nur Großbritannien und Deutschland - müssen sich fragen, ob es hier eine Diskrepanz gibt zwischen dem Anspruch, Weltpolitk mitzugestalten und ihrer Fähigkeit und Willen, dafür auch Opfer zu bringen - das schließt Menschenleben mit ein.
Ein weiteres Problem ist allerdings auch, dass die deutschen Truppen nicht die unmittelbare Kampferfahrung haben, die die Briten etwa in Nordirland oder durch die Kämpfe in den ehemaligen Kolonien gewonnen haben. Kurzfristig kann man solche relativ kampfunerfahrenen Truppen nicht an die Front werfen.
Christopher Hill ist Professor für Internationale Beziehungen und Direktor des Centre of International Studies an der britischen Cambridge University