Jetzt bloß nicht schwanger werden!
22. April 2021"Wenn es möglich ist, wäre es besser, Schwangerschaften auf einen Moment zu verschieben, in dem die Lage etwas entspannter ist", erklärte Raphael Câmara Parente, Staatssekretär im brasilianischen Gesundheitsministerium, in der vergangenen Woche in einem öffentlichen Statement.
Diese Empfehlung gelte natürlich nicht für Frauen im Alter von 42 oder 43 Jahren. "Aber für jüngere Frauen, die noch Zeit haben, eine Familie zu gründen, wäre es definitiv besser, zu warten", so der Staatssekretär.
Grund für die außergewöhnliche Einmischung der Regierung in Brasilia in die Familienplanung brasilianischer Paare sind die steigenden Neuinfektionen von rund 80.000 Fällen pro Tag im Land sowie die hohe Zahl von täglich 3000 Corona-Toten.
Angst um zwei Leben
Die Pandemie hat in mehreren Regionen des Landes bereits zu einem Kollaps der öffentlichen Gesundheitsversorgung geführt. Für schwangere Frauen bedeutet dies, dass sie bei Komplikationen vor, während oder nach der Geburt oder bei einer Corona-Erkrankung nicht mit einer gesicherten medizinischen Versorgung rechnen können.
Ein Blick in die Statistik belegt die besorgniserregende Entwicklung. Nach Erhebungen des Brasilianischen Beobachtungszentrums für Geburtshilfe (OOB) hat sich die Anzahl der Schwangeren, die an oder mit COVID-19 verstorben sind, in den vergangenen zwölf Monaten stark erhöht.
So starben im ersten Quartal wöchentlich 22,2 Schwangere an oder mit einer Corona-Infektion. Im Vergleich zum gesamten Jahresdurchschnitt 2020, der bei 10,4 verstorbenen werdenden Müttern pro Woche lag, hat sich der wöchentliche Durchschnitt somit verdoppelt.
Todesursache Atemnot
Hauptgrund für die Zunahme ist nach Einschätzug von Experten die mangelnde medizinische Versorgung von Schwangeren. Ein Fünftel (22,6 %) der verstorbenen werdenden Mütter hatte keinen Zugang zu intensivmedizinischer Versorgung. Und ein Drittel der Frauen wurde nicht künstlich beatmet, obwohl sie auf der Intensivstation lagen.
"Atemnot ist das größte Problem von COVID-19, deshalb müssen infizierte Schwangere die Möglichkeit haben, künstlich beatmet zu werden", erklärte die Geburtshelferin Rossana Pulcinelli Francisco gegenüber der Tageszeitung "Folha de S. Paulo". "Wenn sie vorher sterben, dann bedeutet dies, dass sie nicht die medizinische Versorgung bekommen haben, die sie gebraucht hätten."
Pulcinelli lehrt an der Universität von São Paulo (USP) und hat die Datenplattform OOB mitentwickelt. Neben dem Mangel an intensivmedizinischer Betreuung in Brasilien sind Pulcinelli zufolge auch die langen Anfahrtswege für die steigende Müttersterblichkeit in Corona-Zeiten mitverantwortlich. Viele Frauen müssten lange Strecken zurücklegen, bis sie überhaupt einen Arzt erreichten.
Extrem viele Kaiserschnitte
In Brasilien liegt die Müttersterblichkeit nach offiziellen Angaben bei rund 60 verstorbenen Müttern pro 100.000 Lebendgeborene. In Argentinien sind es laut WHO 39, in den USA 19. Experten gehen davon aus, dass die Müttersterblichkeit in Brasilien durch Corona sprunghaft ansteigen wird.
Die Zahlen wiegen umso schwerer vor dem Hintergrund, dass in Brasilien mehr als die Hälfte aller Kinder per Kaiserschnitt zur Welt kommen und die Geburten somit überwiegend im Krankenhaus stattfinden. Mit 55 Prozent dieser Entbindungen liegt Brasilien weltweit an zweiter Stelle nach der Dominikanischen Republik.
Zum Vergleich: In Deutschland liegt die Kaiserschnittrate nach Angaben des Statistischen Bundesamtes bei 29 Prozent (2019), in den USA laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) bei 32 Prozent.
Geburtsvorsorge Fehlanzeige
Die Geburtshelferin Rossana Pulcineli Francisco erinnert daran, dass die Müttersterblichkeit in Brasilien bereits vor der Pandemie schwierig zu bekämpfen gewesen sei. Geburtsvorbereitung, Vorsorgeuntersuchungen und die Betreuung nach der Geburt seien in der öffentlichen Gesundheitsversorgung nur lückenhaft vorhanden.
"Die Corona-Pandemie hat diese Defizite noch deutlicher gemacht, und auch die extrem unterschiedliche gesundheitliche Versorgung in den 27 brasilianischen Bundesstaten offenbart", so Pulcineli.
Für den brasilianischen Demographen José Eustáquio Diniz Alves verstärkt die Pandemie auch den Trend der sinkenden Geburtenzahlen und abnehmenden Fruchtbarkeitsrate, der sich in Brasilien bereits schon seit den 1980er Jahren deutlich abzeichnet. Mittlerweile bringen Frauen in Brasilien im Durchschnitt 1,9 Kinder zur Welt, im Jahr 2000 waren es laut brasilianischem Statistikamt IBGE noch 2,4 Kinder.
"Der Rückgang der Fruchtbarkeits- und Geburtenraten ist offensichtlich und wird weiter anhalten", schreibt Alves in einem Beitrag für die Plattform "EcoDebate" vom 21. April. Die Pandemie sorge lediglich dafür, dass dieser Trend schneller voranschreite.