Das Ende der russischen Schwächeperiode
15. Februar 2006Der Kreml lässt gegenwärtig keine Gelegenheit aus, seinen Anspruch auf Mitsprache in der Weltpolitik zu unterstreichen. Das haben auch die Spitzen der EU-Außenpolitik - die "EU-Troika" - bei ihrem Treffen mit dem russischen Außenminister Sergej Lawrow am Mittwoch (15.2.2006) in Wien erfahren.
Neues russisches Selbstbewusstsein
In den jüngsten diplomatischen Initiativen - Gasstreit mit der Ukraine, Ambitionen auf eine G-8-Vollmitgliedschaft Russlands, in der Einladung an die Hamas oder in der Rolle des Vermittlers im Konflikt um das iranische Atomprogramm - demonstriert Moskau ein neues Selbstbewusstsein, das an eine außenpolitische Revolution grenzt. Denn anders als früher sorgt sich der Kreml bei seinen Alleingängen scheinbar gar nicht um sein Image im Westen, von dem er aber gleichzeitig volle Einbindung erwartet.
Ein Grund für die aggressivere russische Außenpolitik ist in der Konsolidierung der politischen und wirtschaftlichen Macht in den Händen der Kreml-Elite zu finden. Das "System Putin" hat mit der Verabschiedung des umstrittenen NGO-Gesetzes und der Einberufung der Gesellschaftskammer als staatliche kontrollierte Zivilgesellschaft seine Vollendung erreicht. Die nächste eigentliche Bewährungsprobe steht erst in zwei Jahren an, wenn im Frühjahr 2008 ein Nachfolger Putins gewählt werden soll.
Zugleich ist Russland wirtschaftlich und finanziell stabilisiert: Seit mehr als sechs Jahren wächst die russische Wirtschaft. Die Auslandsschulden sind fast abbezahlt; im Januar erreichten die Währungsreserven mit 181,4 Milliarden US-Dollar einen neuen Höchststand. Ausländische Investitionen nehmen zu, da Russland für viele europäische Unternehmen als Wachstumsmarkt gilt. Eine zentrale Rolle spielt dabei der Energiereichtum Russlands und die Weltmarktpreise für Gas und Öl.
Auf dem Weg zur Energiegroßmacht
Ein dritter Grund für das neue außenpolitische Selbstbewusstsein ist in neuen internationalen Allianzen zu sehen. Putins Versuche einer West-Integration sind gescheitert: Die USA und die EU-Staaten – zuletzt auch Deutschland durch den Wechsel von Schröder zu Merkel – äußern kritische Vorbehalte gegen die innere Entwicklung Russlands. Der Westen koppelt seine Partnerschaft an die sofortige Übernahme westlicher Werte. In Asien, dem Wachstumsmarkt der Zukunft, hat Russland dagegen die gewünschte Einbindung ohne politische Bedingungen erhalten, und nicht nur als Exporteur von Öl und Gas: Das seit rund zehn Jahren unter dem Stichwort "multipolare Weltordnung" propagierte Bündnis mit China und Indien hat mit der "Shanghai Cooperation Organisation" sicherheitspolitisch eine, wenn auch lockere Form gefunden.
Die rohstoffreichen zentralasiatischen Staaten wie Kasachstan, Usbekistan und Turkmenistan suchen aus Furcht vor westlichem Demokratietransfer auch wieder die Nähe zu Russland. Das und auch die aus Zentralasien über Russland laufenden Pipeline-Netze stärken Russland als Energiegroßmacht im 21. Jahrhundert. Russlands Präsident Putin sieht sich daher seinen zwei großen außenpolitischen Zielen sehr nah: der Wiederaufstieg Russlands als moderne Großmacht und die Integration des riesigen Landes in die Weltwirtschaft.
Folgen für Europa
Noch ist fraglich, ob Russland als Energie-Supermacht seine Großmachtansprüche wirklich rechtfertigen kann und ob die Modernisierung der russischen Wirtschaft trotz demokratischer Defizite gelingt. Dennoch: Die bloße Aussicht auf Einbindung in westliche Strukturen wirkt nicht mehr als Mittel im Umgang mit Russland. Die Zeit ist vorbei, in der Russland am Tropf des Westens hing. Russland ist weder die Sowjetunion von einst, aber auch nicht mehr das schwache, labile Riesenreich der 1990er Jahre.