François Hollande vertanes Jahr
15. Mai 2013Nein, feiern möchte er seinen Amtsantritt vor genau einem Jahr nicht. François Hollande befindet sich schließlich im freien Fall. Im Mai 2012 hatten die Franzosen für den Wechsel gestimmt. Die Hoffnungen waren groß. Aber ein Jahr und einen Arbeitslosenrekord später ärgern sich viele Bürger über ungehaltene Versprechen.
Als "ernüchtert" bezeichnet sich zum Bespiel der Mittvierziger Alain: "Hollande benötigte die Stimmen der Linken für seinen Wahlsieg und hat eine linksorientierte Politik angekündigt." Das Gegenteil davon finde heute statt. "Viele Gesetzespläne sind nicht zum Vorteil der Angestellten."
Hilfloser Verwalter an der Staatsspitze
Eine sozial gerechte Republik, eine furchtlose Offensive gegen die Wirtschaftskrise und vor allem das Ende der vielerorts als peinlich empfundenen Rüpelpräsidentschaft Nicolas Sarkozys - für all das stand der freundlich dreinschauende Sozialist Hollande. Heute ist er aber in Unentschlossenheit erstarrt: Im Spagat zwischen dem Ruf nach mehr Sozialstaat aus der linken Parteibasis und dem Reformdruck aus Europa.
Auch Hollandes Saubermann-Image ist dem Bild eines hilflosen Verwalters an der Staatsspitze gewichen, weil er nicht verhindern konnte, dass der steuerflüchtige Haushaltsminister Jérôme Cahuzac seine Regierung mit in den Dreck zog. "François Hollande hatte uns versprochen, ein normaler Präsident zu sein. Aber nein, er ist nicht normal. Er ist zu weit weg von uns", sagt Colette, die seit 15 Jahren ein Parteibuch der Sozialisten besitzt und Hollande gerne zum Essen einladen würde, um ihn an die großen Herausforderungen seiner Präsidentschaft zu erinnern.
An den wahren Themen vorbei regiert
"Wir haben nun lang und breit über die Homo-Ehe diskutiert", sagt Colette, "aber was ist mit dem Rest?" Für sie gibt es wesentlich wichtigere Dinge. Beispielsweise die Reindustrialisierung des Landes. "Die erreichen wir nur mit ein wenig Wirtschaftspatriotismus in Europa. Es gibt zu viele Themen, bei denen ich von dieser Regierung rein gar nichts sehe."
Die Zahl der Versprechen, die ihm viele als "nicht eingehalten" auflisten, ist in der Tat hoch. Das Drama um die Metallarbeiter im nordfranzösischen Florange, deren Hochöfen nach langem Tauziehen mit dem Eigentümer ArcelorMittal endgültig stillgelegt wurden, berührte Bürger im ganzen Land. Die europaweit berühmte Reichensteuer von 75 Prozent wurde durch das Veto des Verfassungshofs zum Sinnbild einer dilettantischen Regierung.
"Deutschland entscheidet nicht für alle"
Und dann war auch noch die versprochene "Umkehrung der Arbeitslosenkurve" bis Ende 2013, an die kein Wähler mehr glauben mag. Und vor allem das erhoffte "Nein" gegen den von Deutschland geforderten Sparkurs.
Dass dieses wirkungslos verhallt, will der Europaminister nicht anerkennen. "Wir wissen doch, dass Paris und Berlin unterschiedlicher Auffassung sind. Aber das hindert uns nicht daran, zu reden und voran zu gehen, und zwar auch auf französischen Lösungswegen", sagt Thierry Repentin im Radiosender RFI und nennt die Finanztransaktionssteuer. "Nicht Madame Merkel hat für sie gekämpft, auch nicht Sarkozy, sondern François Hollande. Es muss Schluss sein mit dieser fixen Idee, dass Deutschland für alle anderen entscheidet."
Aber Frankreich suhlt sich wieder im Pessimismus. Auf einer ganzen Doppelseite belegte die ehrwürdige Zeitung "Le Monde" mit vielen Tabellen und Grafiken, wie schlecht es um die Seele der Nation und die Lage des Landes bestellt sei. Der Politikwissenschaftler Olivier Rouquan sieht hier den Präsidenten gefragt. Die Energie müsse jetzt in Überzeugungsarbeit fließen, sagt er und erinnert an einen Spezialisten der Materie.
Wahrnehmung wichtiger als Wahrheit
"Ich glaube, es war Jacques Chirac, der gesagt hat: In der Politik zählt nicht die Wahrheit, sondern die Wahrnehmung der Menschen", so Rouquan. "Der Präsident muss vor allem an seiner Kommunikation arbeiten. Er muss auch die Zügel seiner Persönlichkeit etwas lockern und in einen leidenschaftlicheren Dialog mit seinem Land treten."
Doch ein Jahr nach Amtsantritt ist das Band zwischen dem Wahlkämpfer Hollande und den Wählern gerissen. Drei Viertel der Franzosen bewerten die Politik ihres Präsidenten negativ. Das gab es noch nie - nicht mal unter Nicolas Sarkozy, dessen ungebremste Tatkraft zunehmend als Gegenmodell zu Hollandes Zaudern zelebriert wird.
Der zu "normale" Präsident
"Im Wahlkampf sagen sich die Kandidaten, ob links oder rechts: Ich muss das Land mobilisieren, wenn ich gewinnen will", meint Edwy Plenel, Herausgeber der Internetzeitung Mediapart, die dem Präsidenten mit ihren Enthüllungen mächtig zugesetzt hat. "Genau das ist die Falle, in der unsere Regierung heute sitzt." Laut Plenel ist sie für drei Versprechen gewählt worden, Stichworte: Finanzwelt, Europa, Demokratie.
In der Finanzwelt gebe es noch immer keine Kontrolle über die Banken. Und über Europa sei weder neu verhandelt worden, noch sei es zu einer Neuausrichtung gekommen. Im Gegenteil: Das Kräfteverhältnis habe sich zu Frankreichs Ungunsten verschoben, so Plenel. "Aber das zentrale Problem für mich ist die Demokratie. Der als 'normaler Präsident' gewählte François Hollande wird gerade zu einem ganz gewöhnlichen Präsidenten der 5. Republik."