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PolitikEuropa

Demirtas: "Angriff auf die gesamte Opposition"

24. März 2021

In der Türkei ist Selahattin Demirtas, Ex-Chef der prokurdischen HDP, seit über vier Jahren in Haft. Nun droht seiner Partei das Aus. Im DW-Interview schildert Demirtas seine Sicht auf das derzeitige Verbotsverfahren.

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Demirtas sitzt seit November 2016 in einem Hochsicherheitsgefängnis
Selahattin Demirtas sitzt seit November 2016 in einem türkischen HochsicherheitsgefängnisBild: picture-alliance/Pacific Press/S. Nuhoglu

Die pro-kurdische HDP steht vor dem Aus. Seit Monaten wird sie von dem Regierungsbündnis als "Terror-Partei" stigmatisiert. Sie soll Verbindungen zur verbotenen kurdischen Terrororganisation PKK unterhalten. Nun hat auch die türkische Justiz die HDP ins Visier genommen: Die Staatsanwaltschaft in Ankara hat beim Obersten Gerichtshof der Türkei einen Antrag auf ein Verbot der HDP eingereicht. Zudem will sie 687 Politiker der Partei mit einem Betätigungsverbot für fünf Jahre belegen lassen - darunter auch den Ex-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtas. Für ihn ist dies jedoch nicht mehr als eine Randnotiz. Seit November 2016 kann der kurdische Politiker ohnehin nicht mehr politisch aktiv sein. Er sitzt in einem Hochsicherheitsgefängnis in der Stadt Edirne in der Nähe der griechischen Grenze. Ankara wirft dem Politiker Terrorpropaganda, die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung sowie Volksverhetzung und Aufstachelung zur Gewalt vor.

Demirtas, der als eine der wichtigsten oppositionellen Figuren der Türkei gilt, hat lediglich über seinen Anwalt Kontakt zur Außenwelt. Über diesen Kommunikationsweg hat er der DW exklusiv Fragen zu seiner Sicht auf die aktuelle politische Lage beantwortet.

Deutsche Welle: Gegen Ihre Partei hat die Generalstaatsanwaltschaft ein Verbotsverfahren eingeleitet. Der Vorwurf lautet, dass die HDP und ihre Mitglieder darauf abzielten, die Integrität des Staates zu zerstören. Es heißt, dass Ihre Partei demokratische und universelle Grundsätze nicht akzeptiere. Was entgegnen Sie diesen Anschuldigungen?

Selahattin Demirtas: Alle Anschuldigungen sind unbegründet, rechtswidrig und politisch motiviert. Die HDP ist eine verfassungskonforme Partei - wir respektieren demokratische und universelle Grundsätze voll und ganz. Mit dieser Klage versucht das Regierungsbündnis, die kommenden Wahlen für sich zu entscheiden. Es ist ein rein politisch motiviertes Gerichtsverfahren. Ich hoffe, dass das Verfassungsgericht seine Funktion erfüllt: nämlich die Demokratie zu schützen. Und daher diesen Fall der Schande ablehnt.

Der kurdische Politiker gilt weiterhin als eine der wichtigsten politischen Figuren der Türkei
Der kurdische Politiker Demirtas gilt weiterhin als eine der wichtigsten politischen Figuren der TürkeiBild: Getty Images/AFP/O. Kose

Wie bewerten Sie es, dass die türkische Regierung mit Hilfe eines sogenannten "Aktionsplans Menschenrechte" für eine unabhängige Justiz und eine demokratischere Verfassung wirbt - aber beinahe zeitgleich Ihre Partei verbieten lassen möchte und dem HDP-Abgeordneten und Menschenrechtler Ömer Faruk Gergerlioglu das parlamentarische Mandat entzieht

Als Erdogan den "Aktionsplan Menschenrechte" vorstellte, wusste jeder, dass es sich um eine Initiative handelte, die dem Westen Sand in die Augen streuen soll. Tatsächlich zeigten die schwerwiegenden Rechtsverletzungen, die sich sogar am selben Tag der Verkündung abspielten, seine wahren Absichten. Die AKP-Regierung hat weder die Fähigkeit noch die Absicht, Reformen im Bereich der Menschenrechte durchzuführen. Die gerichtliche und politische Verschwörung gegen Ömer Faruk Gergerlioglu und das eingeleitete Verbotsverfahren gegen die HDP haben das bereits bewiesen.

Was für eine Reaktion wünschen Sie sich von anderen Parteien mit Hinblick auf das Verbotsverfahren gegen Ihre Partei?

Der Versuch, die HDP zu schließen, ist eigentlich ein Angriff auf die gesamte Opposition. Jede oppositionelle Gruppierung sollte das erkennen und dann solidarisch und kooperativ sein. Die stärkste Antwort auf die drohende Schließung wäre es, ein oppositionelles Bündnis der Demokratie einzuleiten, sich auf vier bis fünf Grundprinzipien zu einigen und dann gemeinsam einen Kampf zu beginnen. Ich hoffe, der Opposition gelingt es, sich tapfer um einen Tisch zu versammeln, ohne irgendwelchen künstlichen Ängsten zu verfallen.

Der inhaftierte Politiker Demirtas hat über seinen Anwalt die Fragen der DW beantwortet
Der inhaftierte Politiker Demirtas hat die Fragen der DW über seinen Anwalt beantwortetBild: HDP/Presse

Gegen Hunderte von HDP-Mitgliedern, einschließlich Sie selbst, soll ein Politikverbot verhängt werden. Wie würde sich das auf die türkische Politik auswirken?

Wir haben nicht Politik an der Harvard-Universität studiert, sondern sind Politiker aus dem Volk. Wenn uns ein Verbot auferlegt wird, werden tausende neue Politiker nachkommen. Ich werde weiterhin Teil des Kampfes sein - ganz ohne Mitglied einer Partei oder ein Kandidat für einen Wahlkreis zu sein. Ich vertraue der Jugend und den Frauen. Je mehr wir diesen illegalen Angriffen ausgesetzt sind, desto stärker werden wir.

Das HDP-Parteiverbot wird scheinbar von Erdogans Koalitionspartner, der ultranationalistischen MHP, vorangetrieben. Vor allem der MHP-Chef Devlet Bahceli forderte wiederholt die Schließung Ihrer Partei. Der AKP-Flügel hat sich eher zurückgehalten.Wie deuten Sie das?

Die MHP ist für uns null und nichtig. Die politische Verantwortung dafür liegt bei der AKP. Ich glaube, dass alle gewissenhaften Kurden, die früher einmal für die AKP gestimmt haben, dieser Partei der Unterdrückung den Rücken zukehren werden. Die Schließung der HDP durch die AKP würde als unvergessliche, dunkle Schande in ihre eigene politische Geschichte eingehen. Sie werden sehen, wie die AKP einen großen Stimmenverlust erleiden wird. Die Mehrheit der türkischen Bevölkerung möchte an dieser Tyrannei nicht beteiligt sein.

Aus dem Türkischen adaptiert von Daniel Derya Bellut.