Der Bürgermeister von Sylt
6. August 2019Bürgermeister Nikolas Häckel war sichtbar gerührt, als er am Denkmal des Massakers der 50.000 Zivilisten im Warschauer Stadtteil Wola seine Rede hielt. Mehrere Hundert Menschen waren am Montag (5.8.) gekommen, um den späten Nachfolger des berüchtigten SS-Generals Heinz Reinefarth zu sehen.
Tiefe Scham für den "Henker von Warschau"
Der Name ist vielen Warschauern noch sehr gut bekannt. Heinz Reinefarth, oft als "Henker von Warschau" bezeichnet, leitete Truppen, die während des Warschauer Aufstandes Zivilisten auf den Straßen im Stadtteil Wola exekutierten. Gut bekannt ist auch die Tatsache, dass er nach dem Krieg eine politische Karriere als angesehener Bürgermeister von Westerland auf der Insel Sylt machte. Trotz mehrmaliger polnischer Forderungen wurde er nie an Polen ausgeliefert - und auch in Deutschland nie zur Rechenschaft gezogen.
Darüber ist der heute 45-jährige Sylter Nikolas Häckel "entsetzt". "Ich selbst schäme mich dafür und ringe beim Hinschauen um Fassung - als Bürgermeister, aber auch als Privatperson", sagte er während der Gedenkfeier in Warschau und bat im Namen der Einwohner von Sylt "demütig um Vergebung und um Versöhnung unserer schicksalhaft verbundenen Gesellschaften".
Am Warschauer Aufstand gegen die deutschen Besatzer haben 50.000 Widerstandskämpfer teilgenommen, viele davon sehr jung, ohne militärische Ausbildung und schlecht bewaffnet. Sie hatten keine Chance gegen die Übermacht der Deutschen, hofften aber auf die Unterstützung der westlichen Alliierten und der Roten Armee, die zu dem Zeitpunkt schon am anderen Ufer der Weichsel stand. Doch die Hilfe blieb aus und die polnische Hauptstadt zahlte einen hohen Blutzoll. Fast 200.000 Menschen, die meisten Zivilisten, wurden während der zwei Monate andauernden Kämpfe getötet und weite Teile Warschaus wurden dem Erdboden gleich gemacht.
Die Last der Vergangenheit
Daran erinnert seit fünf Jahren eine Gedenktafel am Portal des Sylter Rathauses, die Nikolas Häckel in seiner Rede erwähnte. "Heinz Reinefarth, von 1951 bis 1963 Bürgermeister von Westerland, war als Kommandeur einer Kampfgruppe mitverantwortlich für dieses Verbrechen. Beschämt verneigen wir uns vor seinen Opfern und hoffen auf Versöhnung", ist darauf zu lesen.
Die heftige Debatte um diese Gedenktafel hat die Pastorin der hiesigen evangelisch-lutherischen Gemeinde Anja Lochner sehr gut in Erinnerung. Sie hat sich damals dafür eingesetzt, das heikle Thema in die Öffentlichkeit zu tragen.
Mit einer E-Mail aus Polen hatte es begonnen - Anfang 2013. Anja Lochner wurde gefragt, ob sie die Geschichte des ehemaligen Westerländer Bürgermeisters Heinz Reinefarth kenne und ob sie sich nicht um Versöhnungsarbeit kümmern wolle.
Ein heikles Thema
Von der SS-Vergangenheit des ehemaligen Bürgermeisters habe sie "gewusst und nichts gewusst", manches habe sie zwar gehört, aber kannte die Details nicht. "Es war, solange ich hier war, nie und nirgends ein Thema. Als ich die Email erhielt, habe ich sofort versucht, mich kundig zu machen, weil ich entsetzt war über das, was geschehen war und zugleich entsetzt darüber, dass es hier kein Thema war", sagte Lochner gegenüber der DW.
Sie forderte die Stadt dazu auf, dass sich auch "auf politischer Ebene mit Reinefarths Geschichte auseinandergesetzt wird". Woraufhin das Rathaus einen Arbeitskreis zur Aufarbeitung ins Leben gerufen hatte.
Lochner spricht von der "Aufwühlung" der Einwohner. "Zunächst gab es große Ablehnung, sich überhaupt mit dem Thema zu befassen, aus Sorge vor den Auseinandersetzungen. Reinefarth hatte ja nach dem Krieg eine Geschichte hier in Westerland, die positiv besetzt war. Er war erfolgreich, angesehen, bekannt. Viele leben noch, die mit ihm zu tun hatten. Auch seine Familie".
Vor fünf Jahren war sie selbst in Warschau, als die damalige Sylter Bürgermeisterin Petra Reiber die Initiative ergriffen hatte, mit einer Delegation zum Gedenken des Wola-Massakers nach Polen zu reisen. Auch sie bat die Polen damals um Vergebung.
Den Tätern vergeben
Wanda Traczyk-Stawska, eine der über 1.000 noch lebenden Widerstandskämpfer von Warschau, ist "glücklich, dass eine deutsche Delegation des Wola-Massakers in Warschau gedenkt”. Sie schätzt es sehr, dass die Sylter ihre Geschichte kennenlernen wollen und dadurch auch zu verstehen versuchen, wozu der Faschismus geführt habe.
Im Gespräch mit der DW berichtet Traczyk-Stawska, dass sie den Tätern vergeben hat. "Sie haben getötet, aber ich selbst bin Soldatin geworden, um zu töten”. Tkaczyk-Stawska gehörte der Pfadfinder-Organisation "Graue Reihen" an, die sich massiv am Aufstand beteiligt hatte. Als Verbindungssoldatin trug sie Meldungen und Befehle zwischen den Stabsstellen der Widerstandskämpfer hin und her, sie kämpfte aber auch mit Waffen auf den Barrikaden von Warschau. Dann geriet sie als eine von 3.000 Warschauer Widerstandskämpferinnen in deutsche Gefangenschaft.
Heute warnt die 92-jährige vor einer Wiederkehr des Faschismus. Solange Menschen leben, die den Faschismus noch in Erinnerung haben, solange können wir uns der Verbreitung der faschistischen Tendenzen widersetzen”, sagte die Veteranin während der Warschauer Gedenkfeier.