Der Kampf um Falludscha
6. Juni 2016Schüsse aus dem Hinterhalt; ein Terrorist, der inmitten einer Gruppe von Flüchtlingen eine Bombe zündet: Mit aller Brutalität gehen die Kämpfer der Terrorgruppe "Islamischer Staat" (IS) gegen jene Zivilisten aus der Stadt Falludscha vor, die nicht viel mehr wollen, als ihr Leben zu retten. Rund 50.000 Zivilisten, schätzen humanitäre Organisationen wie etwa der Norwegische Flüchtlingsrat, sind derzeit noch in Falludscha eingesperrt. Wer zu fliehen versucht, riskiert es, von IS-Kämpfern getötet zu werden. Die Terroristen missbrauchen die Zivilisten als menschliche Schutzschilde. Ihre eigenen Familien haben sie hingegen längst aus der Stadt gebracht.
Viel mehr als Gewalt gegenüber Zivilisten bleibt den Dschihadisten des IS nicht. Seitdem sie die Stadt zu Beginn des Jahres 2014 einnahmen, haben sie dort eine Schreckensherrschaft errichtet, die die Bewohner Falludschas zwar einschüchterte, nicht aber ihre Unterstützung gewann. Am Wochenende entdeckte das irakische Militär ein Massengrab, in dem der IS seine Opfer verscharrt hatte.
Er schätze, dass nur ein Prozent der Bürger den IS unterstützen, erklärt ein aus der Stadt geflohener Zivilist gegenüber internationalen Nachrichtenagenturen: "Und diejenigen, die sie unterstützen, sind die, die von ihnen profitieren."
Die Anfänge des Dschihadismus
Die Entfremdung zwischen Bürgern und Besatzern dokumentiert den Niedergang der dschihadistischen Tradition in Falludscha. Die geht auf das Jahr 1991 zurück. Damals hatte eine internationale Koalition dem irakischen Militär, das auf Geheiß Saddam Husseins das benachbarte Kuwait überfallen hatte, eine vernichtende Niederlage beigebracht. Die Streitkräfte der Koalition verfolgten die irakischen Truppen bis nach Bagdad. Im Zuge dieser Aktionen versuchte ein britisches Kampfflugzeug, bei Falludscha eine Brücke über den Euphrat zu zerstören. Doch die lasergesteuerte Bombe verfehlte ihr Ziel und traf stattdessen einen belebten Marktplatz - 150 Menschen starben. Die Briten feuerten noch eine Bombe ab. Die ging wiederum daneben und traf noch einmal den Marktplatz. 50 weitere Menschen kamen ums Leben: der Beginn bis zum Hass sich steigernder antiwestlicher Ressentiments.
Nach dem US-Einmarsch im Jahr 2003 wird die Stadt zum Zentrum des dschihadistischen Widerstands. Aus Falludscha heraus operieren auch viele Kämpfer des Top-Terroristen Abu Mussab al-Zarqawi. Hier wird vermutlich auch der amerikanische Geschäftsmann Nicholas Berg gefangen gehalten, der als erste westliche Geisel im Mai 2004 vor laufender Kamera enthauptet wird. Im Frühjahr und Herbst jenes Jahres ist die Stadt Schauplatz heftiger Zusammenstöße zwischen Widerständlern und US-Armee. Im November, nach Monaten nicht endender Sprengstofffallen, Entführungen, Selbstmordattentate, starten die Amerikaner eine großangelegte Offensive. 6500 Marines, 1500 amerikanische sowie 2000 irakische Soldaten sind im Einsatz, ausgerüstet unter anderem mit elf Millionen Patronen. Schritt für Schritt arbeiten sie sich vor, erobern im Häuserkampf Viertel um Viertel.
Doch in den folgenden Jahren bleibt Falludscha Zentrum des sunnitischen Widerstands gegen die Nachkriegsordnung im Irak. Die Sunniten wehren sich gegen die systematische Diskriminierung, die sie während der Regierungszeit des Schiiten Nuri al-Maliki zu erleiden haben. Die Dschihadisten um den Terroristen Abu Mussab al-Zarqawi - aus seiner Gruppe geht später der "Islamische Staat" hervor - gelten ihnen zunächst als Verbündete. Doch bald merken die Sunniten, dass die Dschihadisten ganz andere Ziele verfolgen, als sie zunächst vermuteten.
Politische Herausforderungen
Der militärische Kampf um Falludscha, vermutet der Journalist Ali Mamouri im Internet-Magazin Al-Monitor, dürfte absehbar gewonnen sein - trotz der Sprengstofffallen, Hinterhalte und Scharfschützen, mit denen sich der IS dem irakischen Militär seit Beginn der Offensive vor zwei Wochen entgegenstellt.
Die eigentlichen Herausforderungen würden danach beginnen: So müssten lokale Kräfte gebildet werden, die die öffentliche Sicherheit wieder herstellten. "Die Regierung muss einen umfassenden Restaurierungsplan für die Stadt erstellen; außerdem müssen sich gemäßigte Prediger dem Salafismus entgegenstellen." Die Stadt, schreibt Ali Mamouri, kenne eine große sufistische Tradition. Sie gelte es nun zu reaktivieren. Auch gelte es, das Verhältnis zwischen Sunniten und Schiiten neu zu begründen.
Es gebe durchaus Ansätze für eine positive Entwicklung im Irak, sagte der Politologe Volker Perthes im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Trotz aller Risiken und Unzulänglichkeiten sei der Irak kein gescheiterter Staat: "Das ist er allenfalls regional in einzelnen Teilen des Landes, etwa in den Gebieten, die der IS kontrolliert. Aber es ist insgesamt ein gefährdeter Staat."
"Islamischer Staat" geschlagen, aber nicht besiegt
Trotz mehrerer Niederlagen im Irak wie auch in Syrien bleibe der IS eine Bedrohung, erwartet der Nahost-Experte Günter Meyer. Viele Kämpfer hätten die beiden Städte bereits in Richtung Libyen verlassen: "Dort sieht der IS offenbar seine Zukunft. " Durch seine Präsenz in Nordafrika wachse zudem die Gefahr von Terroranschlägen innerhalb von Europa. "Es ist also weder mit einer völligen Vernichtung des IS in den muslimischen Ländern zu rechnen, noch mit einer Senkung der Terrorgefahr in Europa."
In Falludscha geht die Offensive des irakischen Militärs weiter. Zwischen 500 und 1000 IS-Kämpfer sollen sich noch in der Stadt aufhalten. Sie dürften die irakische Armee kaum aufhalten. Vorausgesetzt, die Terroristen wollen das überhaupt. Die ersten von ihnen, berichten Augenzeugen, hätten bereits damit begonnen, sich die Bärte abzurasieren und sich unter die Flüchtlinge aus Falludscha zu mischen.