Der Kreml zeigt Zähne
7. Dezember 2011"Wenn Ihr 100 Mann sein werdet, werden wir Euch niederknüppeln. Wenn Ihr 1000 Mann sein werdet, setzen wir Tränengas ein. Wenn 10.000 Leute auf die Straßen gehen, werden wir da stehen und beobachten. Aber wenn 100.000 kommen, werden wir uns Euch anschließen." Es klingt fast poetisch und ist ein Zitat aus einem User-Kommentar im Internet-Portal Youtube zu einem Video über die aktuellen Proteste in Moskau. Ein Polizist soll es nach der Festnahme eines jungen Russen gesagt haben.
Noch gibt es mehr Polizisten als Demonstranten auf Moskaus Straßen. Nach offiziellen Angaben waren am Dienstag mehr als 50.000 Sicherheitskräfte im Einsatz. Sie standen einigen tausend Protestlern gegenüber, die seit Anfang der Woche in der russischen Hauptstadt gegen die offenbar massiven Fälschungen bei der Parlamentwahl demonstrieren. Bei der Wahl am 4. Dezember musste die Kreml-Partei "Geeintes Russland" nach offiziellen Angaben zwar starke Verluste hinnehmen, soll aber eine absolute Mehrheit erreicht haben. Mehr als 300 Menschen wurden am Dienstag allein in Moskau festgenommen, darunter viele Oppositionelle.
Gespenstische Szenen in Moskau
Demonstriert wurde nicht nur gegen, sondern auch für die Regierungspartei. Tausende, vor allem junge Leute versammelten sich auf einem Platz in der Stadtmitte, um den Sieg von "Geeintes Russland" zu feiern. Sie riefen "Russland! Russland!", "Russland - Putin!" oder "Medwedew - Sieg!". Ein gespenstisches Szenario: Die Menge wurde von einem jungen Trommler in Militäruniform angeheizt. Sein Auftritt erinnerte an einen Schamanen, der böse Geister zu vertreiben versucht. Die jungen Leute standen wie gelähmt da. Viele wurden offenbar aus der Provinz nach Moskau gebracht, um für die Kreml-Partei zu demonstrieren. Eine Gruppe junger Mädchen berichtete, sie seien aus der Stadt Tula gekommen, die rund vier Autostunden von Moskau entfernt ist.
Die Stimmung in der russischen Hauptstadt bleibt auch am Mittwoch (07.12.2011), dem dritten Tag nach der Wahl, angespannt. Es gibt Berichte über Festnahmen von Journalisten. Einige Plätze und Straßen sind von der Polizei gesperrt. Das Bild in der Stadtmitte prägen Polizeibusse und Sonderfahrzeuge. Sie stehen in Reihen entlang der Twerskaja Straße, Moskaus Prachtboulevard, und in den Seitengassen. An den Ausgängen der Metrostationen sind Polizisten der Sondereinheiten zu sehen, schwere Militärlaster parken neben dem Hotel "Moskau" am Platz der Revolution.
Keine Revolution zu erwarten
Ereignisse wie im Winter 2004 in der benachbarten Ukraine gelten in Moskau als eher unwahrscheinlich. Damals hatten in der ukrainischen Hauptstadt Kiew Hunderttausende gegen eine gefälschte Präsidentenwahl friedlich demonstriert und eine Wiederholung der Abstimmung erzwungen. Es war die so genannte "Revolution in Orange". Eine echte Revolution erwarten Experten diesmal nicht.
In Russland sei damit noch nicht zu rechnen, sagt im Interview mit DW-WORLD.DE Lars Peter Schmidt, Leiter des Moskauer Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung: "Dafür ist das Establishment in Russland noch zu stark und zu mächtig." Er schließt aber nicht aus, dass sich die Proteste in Russland noch ausweiten können. "Der Grad der Manipulation, die man auch auf Videos im Internet erkennen konnte, ist relativ groß. Und auch die jüngere Generation und der neu entstandene Mittelstand in den russischen Städten sind mit den politischen Verhältnissen in Russland nicht mehr zufrieden. Sie sehen das derzeitige politische System äußerst kritisch", sagt Schmidt.
Seine Prognose: Sollte es weiter anhaltenden Protest geben, werde der Kreml "wahrscheinlich kurzfristig mit Druck versuchen, diese Sache klein zu halten". Der Experte der Adenauer-Stiftung in Moskau spricht von einem "doch sehr aktiven Sicherheitsapparat in Russland", der die Proteste eindämmen würde, so dass diese sich "wahrscheinlich mittelfristig noch einmal beruhigen werden".
Große schweigende Mehrheit
Auch Sascha Tamm von der Moskauer Vertretung der Friedrich-Naumann-Stiftung glaubt, die Zahl der Protestler sei für ein so großes Land wie Russland noch zu gering. Er fügt aber hinzu: "Wenn sich das über Tage wiederholt und in anderen Städten auch anfängt, dann ist es schon ein Problem, weil es zeigt, dass die Macht und der Zugriff der Behörden eben nicht so stark sind, wie man vermutet".
In der Tat gibt es Meldungen über Proteste gegen Wahlergebnisse auch aus anderen russischen Städten wie etwa Rostow-am-Don oder Samara. Doch noch sind es wenige hundert Menschen, die in der Provinz auf die Straße gehen. Die große schweigende Mehrheit tut es nicht. Das werde aber so nicht bleiben, wenn der Kreml nach dieser Wahl so weitermache wie bisher, meint Lars Peter Schmidt: "Wenn man eine Chance haben will, auch politisch zu überleben, muss man mehr Partizipation für den großen unzufriedenen Teil innerhalb der russischen Bevölkerung zulassen", sagt der Experte der Adenauer-Stiftung. "Ansonsten ist man mittelfristig nicht überlebensfähig."
Autor: Jegor Winogradow / Roman Goncharenko
Redaktion: Bernd Johann