Deutsche Migrationspolitik - Wettbewerb der Abschreckung
27. September 2023Deutschland steht vor wichtigen Landtagswahlen. Die rechtspopulistische Alternative für Deutschland geht aus Umfragen als zweitstärkste Kraft hervor. Landräte und Bürgermeister landauf, landab klagen wegen Überforderung durch die Versorgung von immer mehr Geflüchteten. Dass zudem auch rund 1,1 Millionen Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine Wohnungen, ärztliche Versorgung und Schulen für ihre Kinder brauchen, macht es nicht einfacher. So stellt sich, vereinfacht, die politische Gemengelage dar, vor deren Hintergrund die Debatte über die Migrationspolitik in Deutschland gerade Fahrt aufnimmt.
Der Ton ist alarmiert. "Die Zahl derjenigen, die zu uns kommen, ist viel größer, als was sich einfach verkraften lässt", sagte jüngst Bundeskanzler Olaf Scholz. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sah die "Belastungsgrenze erreicht". Der grüne Vizekanzler Robert Habeck bekannte im Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND): "Um das Recht auf Asylzu schützen, müssen wir die Wirklichkeit annehmen und die konkreten Probleme lösen - auch, wenn es bedeutet, moralisch schwierige Entscheidungen zu treffen".
"Wohltemperierte Grausamkeit"?
Vor acht Jahren wurde der Philosoph Peter Sloterdijk heftig angegriffen, als er angesichts der Ankunft hunderttausender Geflüchteter forderte, die Europäer müssten sich über ihre eigene Attraktivität für Flüchtlinge neu Gedanken machen. Sloterdijk sprach von einem Abwehrsystem, "zu dessen Konstruktion eine wohltemperierte Grausamkeit vonnöten" sei. Und diagnostizierte als Hauptproblem: "Die Europäer definieren sich selber als gutartig und nicht grausam."
Inzwischen ist dieses Denken über Migration in Deutschland im politischen Mainstream angekommen. Alt-Bundespräsident Joachim Gauck sprach von "Kontrollverlust" und fuhr fort: "Wir müssen Spielräume entdecken, die uns zunächst unsympathisch sind, weil sie inhuman klingen." Gauck hielt es für "politisch sogar geboten, eine Begrenzungsstrategie zu fahren". Als Beispiel verwies Gauck auf Deutschlands nördlichen Nachbarn Dänemark.
Dänemarks sozialdemokratische Regierung verfolgt schon seit Jahren einen harten und restriktiven Kurs in der Migrationspolitik. Das Ergebnis in Zahlen: Im Juli 2023 beantragten in Dänemark mit sechs Millionen Einwohnern nur 180 Menschen Asyl. In Deutschland - mit mehr als 84 Millionen Einwohnern - waren es nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge 25.165 Menschen.
Abschreckung auf Kosten der Nachbarländer?
Zum dänischen Instrumentenkasten der Abschreckung gehören deutliche Kürzungen bei den Sozialleistungen für Migranten. "Man wollte damit erreichen, dass Menschen entweder gar nicht kommen oder Menschen, die bereits gekommen sind, schneller in den Arbeitsmarkt bringen. Letzteres hat aber nur zum Teil geklappt," sagt die Wiener Migrationsforscherin Judith Kohlenberger der DW. "Was nämlich auch passiert ist durch die Kürzung der Sozialleistungen: Die Kriminalität ist gestiegen und der Bildungserfolg von Migrantinnen und Migranten ist zurückgegangen ist. Beides sind erwartbare Auswirkungen gewesen. Weil man das auch aus anderen Situationen kennt, aus der Armutsforschung."
Der schwedische Migrationsexperte Bernd Parusel ergänzt: "Dänemark hat auch die Familienzusammenführung stark eingeschränkt. Zudem wurde der Schutzstatus für Flüchtlinge aus Syrien aufgehoben und versucht, sie zu ermutigen, zurück nach Syrien zu gehen." Durch die erschwerten Bedingungen habe man zwar teilweise erreicht, dass Migranten gar nicht erst kommen, analysiert Judith Kohlenberger. "Das gelang aber nur, weil Länder im Umfeld Dänemarks diese aufgefangen haben, der Migrationsdruck hat sich also verlagert. Ein Hauptgrund, warum weniger Menschen nach Dänemark gekommen sind, liegt etwa darin, dass Deutschland sehr wohl noch Menschen aufgenommen hat."
Zum Asylverfahren nach Ruanda?
Vorübergehend auf Eis liegt das dänische Vorhaben, Menschen komplett von Asylverfahren auf dänischem Territorium abzuschneiden. Asylsuchende, die nach Dänemark kommen, so schildert der skandinavische Asylexperte Parusel die Pläne, sollten in ein Drittland außerhalb der Europäischen Union geschickt werden. Erst dort würden ihre Asylanträge bearbeitet.
In Kopenhagen dachte man als Ort für die Verfahren an Ruanda. Analog zu britischen Plänen, die ebenfalls fallen gelassen wurden, zumindest vorübergehend. Die österreichische Migrationsforscherin Kohlenberger erklärt warum: "Die Geflüchteten, die quasi ausgelagert werden, müssen in diesem Drittstaat Zugang zu einem rechtsstaatlichen Asylverfahren haben. Und diese rechtsstaatlichen Eckbausteine sind in Ruanda nicht gegeben."
Auch in Deutschland wird über die Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten diskutiert. Der Grundgedanke: Geflüchtete haben ein Recht auf Schutz, aber nicht darauf, sich auszusuchen, wo sie ihn finden. Als Beispiel wird gerne Australien angeführt. Canberra hat mit der rechtlich umstrittenen Auslagerung seiner Asylverfahren nach Papua-Neuguinea die Zahl der Geflüchteten gesenkt.
Mehr Abschiebungen aus Deutschland?
Immer wieder taucht in der aktuellen Debatte auch die Forderung nach effektiveren Abschiebungen auf: Laut Ausländerzentralregister waren in Deutschland Ende 2022 rund 304.000 Menschen ausreisepflichtig. Davon hatten aber etwa 248.000 eine Duldung. Sie durften nicht abgeschoben werden, etwa weil sie krank waren oder in ihrem Herkunftsland Krieg herrscht. Abgeschoben wurden 2022 knapp 13.000 Menschen.
Bei diesem Thema wird häufig Österreich als Vorbild genannt. Aber nur, bis man etwas genauer hinschaut. So wie Judith Kohlenberger: "Wir sehen tatsächlich eine Zunahme von Rückführungen aus Österreich in den letzten Jahren", gesteht die Migrationsexpertin zu. "Aber: Der Großteil dieser Rückführungen erfolgte lediglich in andere europäische Länder. Es sind nur selten abgelehnte Asylbewerber unter den Abgeschobenen."
EU: Wettlauf der Abschreckung
In der EU fehle ein funktionierendes System der Aufteilung von Verantwortung für Geflüchtete, für die Verteilung von Lasten und Kosten. Deshalb, so hat Bernd Parusel beobachtet, würden viele Länder einseitige Maßnahmen ergreifen, um als Migrationsziel weniger attraktiv zu werden. Parusel spricht von einem "Wettlauf nach unten" zur Abschreckung. Dazu gehören für ihn die Leistungsbeschränkungen im Norden, aber auch "sehr drastische Praktiken" südeuropäischer Länder wie Griechenland, um Menschen an ihren Grenzen zurückzudrängen.
Angesichts dessen betont die Migrationsforscherin Petra Bendel im DW-Interview: "Es gibt nicht den einen Königsweg der Flüchtlings- und Migrationspolitik, sondern diese muss gestaffelt ansetzen an verschiedenen Ebenen, politischen Ebenen und mit verschiedenen Instrumenten. Und das Wichtigste dabei ist, dass wir die rechtlichen Grundlagen dabei beachten: nämlich das Völkerrecht, das EU-Recht und das deutsche Grundgesetz." Diese rechtlichen Grundlagen aber werden vielerorts missachtet.