Deutscher Buchpreis: Lichtblicke in Corona-Zeiten
18. August 2020Die Corona-Pandemie hat den Literaturbetrieb besonders hart getroffen: Buchhandlungen mussten vorübergehend schließen, Autoren die für das finanzielle Überleben so wichtigen Lesungen absagen, Verlage verschoben Veröffentlichungen nach hinten.
Insofern ist es nicht verwunderlich, dass ausgerechnet zum "Deutschen Buchpreis 2020" so viele Titel wie noch nie ins Rennen geschickt wurden: 120 Verlage aus Deutschland, Österreich und der Schweiz haben von ihrem Recht Gebrauch gemacht, bis zu zwei Bücher für den begehrten Literaturpreis einzureichen.
Und weil die siebenköpfige Jury selbst auch noch interessante Buchtitel mit aufnehmen kann, standen in diesem Jahr ganze 206 Romane für den Deutschen Buchpreis 2020 zur Auswahl. Nun hat sich die Jury in ihrer "Longlist” auf die 20 aussichtsreichsten Bücher geeinigt.
Wohltuend ausgewogene Auswahl
"Im Gegensatz zur Lektüre der Nachrichten der vergangenen Monate bot die Beschäftigung mit den über 200 eingereichten Titeln vielfältige Lichtblicke", kommentierte die Jury-Sprecherin Hanna Engelmaier diese Liste im Hinblick auf die Corona-Pandemie, die auch vor dem Preis nicht Halt macht - die Jury musste ihre erste Sitzung online abhalten.
Trotzdem haben die Literatur-Experten eine ausgewogene Wahl treffen können: Unter den 20 Nominierten finden sich zehn Frauen und zehn Männer, 17 Autoren aus Deutschland, fünf aus Österreich und drei aus der Schweiz. Mit dabei sind mit Christine Wunnicke (mit "Die Dame mit der bemalten Hand"), Thomas Hettche ("Herzfaden") oder Frank Witzel ("Inniger Schiffbruch"), der den Deutschen Buchpreis 2015 noch als Außenseiter gewann, durchaus einige alte Bekannte.
Historische Themen sehr beliebt
Auch einige Debütromane haben es in diesem Jahr wieder in die engere Auswahl geschafft. Olivia Wenzel etwa erzählt in ihrem autobiografisch angehauchten Buch "1000 Serpentinen Angst" von dem Aufwachsen als Schwarze in Ostdeutschland, Deniz Ohde spürt in "Streulicht" sozialen Unterschiede und der Biografie eines Arbeiterkindes nach.
Das ist typisch für die diesjährige Auswahl: Besonders viele Romane nutzten das biografische und autobiografische Erzählen, fasst Engelmaier für die Jury zusammen. Außerdem fänden sich viele Titel in der Liste, die sich mit historischen Themen auseinandersetzen.
Zu nennen wäre da beispielsweise "Die Unschärfe der Welt" von Iris Wolff, in der sich die wechselhafte Geschichte des 20. Jahrhunderts anhand eines Familienschicksals abzeichnet. Oder Thomas Hettches "Herzfaden", der die Geschichte der nicht nur bei Kindern beliebte Augsburger Puppenkiste erzählt.
Gleichzeitig, so Engelmeier, seien aber auch Romane aufgenommen worden, die sich "jüngeren identitätspolitischen Debatten" widmeten oder die Form des Romans aufbrechen und mit ihr experimentieren: "Die Longlist repräsentiert so nicht nur eine Vielfalt von Themen, sondern auch die Vielfalt poetischer Ausdrucksformen dieser Saison."
Die Jury verjüngt, die Verlage divers
Vielfalt kann man durchaus auch der Jury-Besetzung selbst attestieren. Auffallend jung und weiblich sind in diesem Jahr die Juroren um die Sprecherin Dr. Hanna Engelmeier. Sie ist Essayistin, Rezensentin und Kulturwissenschaftlerin am Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) in Essen.
Mit ihr zusammen haben die Literaturredakteurin und Moderatorin Katharina Borchardt von SWR2, David Hugendick, Literaturredakteur von Zeit Online, sowie Felix Stephan, Rezensent für die Süddeutsche Zeitung über den besten deutschsprachigen Roman zu entscheiden. Außerdem sind Chris Möller, Literaturvermittlerin von "Kabeljau&Dorsch", die Buchhändlerinnen Maria-Christina Piwowarski und Denise Zumbrunnen mit dabei.
Erfreulicherweise sind bei den einreichern auch einige "Indipendent-Verlage" vertreten: oft junge, kleine und von großen Konzernen unabhängige Verlagshäuser wie z.B. Jung und Jung, der Engeler-Verlag oder Müry Salzmann.
Hier alle Anwärter in alphabetischer Reihenfolge:
Helena Adler: Die Infantin trägt den Scheitel links (Jung und Jung, Februar 2020)
Birgit Birnbacher: Ich an meiner Seite (Paul Zsolnay, März 2020)
Bov Bjerg: Serpentinen (Claassen, Januar 2020)
Arno Camenisch: Goldene Jahre (Engeler, Mai 2020)
Roman Ehrlich: Malé (S. Fischer, September 2020)
Dorothee Elmiger: Aus der Zuckerfabrik (Carl Hanser, August 2020)
Valerie Fritsch: Herzklappen von Johnson & Johnson (Suhrkamp, Februar 2020)
Thomas Hettche: Herzfaden (Kiepenheuer & Witsch, September 2020)
Charles Lewinsky: Der Halbbart (Diogenes, August 2020)
Deniz Ohde: Streulicht (Suhrkamp, August 2020)
Leif Randt: Allegro Pastell (Kiepenheuer & Witsch, März 2020)
Stephan Roiss: Triceratops (Kremayr & Scheriau, August 2020)
Robert Seethaler: Der letzte Satz (Hanser Berlin, August 2020)
Eva Sichelschmidt: Bis wieder einer weint (Rowohlt Hundert Augen, Januar 2020)
Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos (Matthes & Seitz Berlin, Februar 2020)
Olivia Wenzel: 1000 Serpentinen Angst (S. Fischer, März 2020)
Frank Witzel: Inniger Schiffbruch (Matthes & Seitz Berlin, Februar 2020)
Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt (Klett-Cotta, August 2020)
Jens Wonneberger: Mission Pflaumenbaum (Müry Salzmann, Oktober 2019)
Christine Wunnicke: Die Dame mit der bemalten Hand (Berenberg, August 2020)
Das Ziel: Aufmerksamkeit für deutsche Literatur schaffen
Die jetzt ausgewählten 20 Romane werden bis zum 15. September 2020 auf sechs reduziert: die sogenannte Shortlist. Am 12. Oktober findet dann traditionsgemäß zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse die Preisverleihung statt – in diesem Jahr als Live-Sendung aus dem Kaisersaal des "Römer", des historischen Frankfurter Rathauses. Erst am Abend bei der Preisverleihung erfahren die sechs ausgewählten Finalisten, wer von ihnen den Deutschen Bücherpreis 2020 erhält.
Seit 2005 zeichnet der Börsenverein des Deutschen Buchhandels mit dem Deutschen Buchpreis den besten deutschsprachigen Roman des Jahres aus. Die Deutsche Welle ist Medienpartner. Der Preis ist mit insgesamt 37.500 Euro dotiert und zählt zu den wichtigsten Literaturauszeichnungen in Europa: Der Sieger erhält 25.000 Euro, die übrigen fünf Autoren der Shortlist jeweils 2500 Euro.
Ziel des Preises ist es, über Ländergrenzen hinweg Aufmerksamkeit für deutschsprachige Autoren zu schaffen. 2019 gewann der Schriftsteller Saša Stanišić den Buchpreis für seinen Roman "Herkunft", der seine (Familien-)Geschichte, die Flucht und Erinnerungen zentral behandelt. Der Autor (Jg. 1978) stammt aus Bosnien Herzegowina und kam 1992 als Flüchtling nach Deutschland.