Deutschland trauert um Reich-Ranicki
19. September 2013Bundespräsident Joachim Gauck sagte über Reich-Ranicki, "er, den die Deutschen einst aus ihrer Mitte vertrieben haben und vernichten wollten, besaß die Größe, ihnen nach der Barbarei neue Zugänge zu ihrer Kultur zu eröffnen. Bundeskanzlerin Angela Merkel würdigte Reich-Ranicki als "unvergleichlichen Freund der Literatur, aber ebenso der Freiheit und der Demokratie".
Marcel Reich-Ranicki, der auch nach seinem Autorenkürzel MRR genannt wurde, wurde in Polen als Sohn einer jüdischen Familie geboren und wuchs in Berlin auf. Zusammen mit seiner Frau überlebte er das Warschauer Ghetto und kehrte 1958 nach Deutschland zurück. Am Mittwoch starb er nach längerer Krankheit in einem Frankfurter Pflegeheim.
"Er glaubte an die Kultur"
Der Mitherausgeber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", Frank Schirrmacher, hatte den 93-Jährigen am Mittwoch noch gesehen: "Um 14 Uhr hatte ich ihn noch besucht. Marcel Reich-Ranicki erkannte einen", schrieb Schirrmacher in seinem Nachruf. Schirrmacher hatte den Tod seines Kollegen und Freundes zuvor via Twitter bekanntgegeben. Marcel Reich-Ranicki hatte jahrzehntelang für die FAZ gearbeitet.
Er sei viel mehr als ein Literatur-Kritiker gewesen, würdigte ihn Schirrmacher. "Das ist jemand gewesen, der nach diesen Schrecken, die er erlebt hat, der Verfolgung, der Vernichtung seiner Familie, des völligen moralischen Kollaps der Deutschen zurück kam und an die Kultur glaubte."
Einem Millionenpublikum wurde der Kritiker mit der ZDF-Sendung "Das Literarische Quartett" bekannt, die er fast 14 Jahre lang moderierte. Kollege Hellmuth Karasek bezeichnete seinen Freund als genial. Die Autorin Ulla Hahn sah in ihm einen Weltbürger. Er habe "uns die alles überstrahlende Macht großer Literatur vorgeführt", schrieb sie in der FAZ.
Wortgewaltig und streitbar
Legendär wurden seine öffentliche Kontroversen mit prominenten Schriftstellern wie Günter Grass oder Martin Walser. Seine Autobiografie "Mein Leben", in der er vor allem seine Zeit im Warschauer Ghetto thematisierte, wurde zum Bestseller. Reich-Ranicki, der unter den Nazis nicht studieren durfte, erhielt für seine Arbeit zahlreiche Ehrungen und neun Ehrendoktorwürden - zuletzt von der Humboldt-Universität Berlin und der Universität Tel Aviv.
Im Oktober 2008 entfachte er eine Debatte über das Niveau im deutschen Fernsehen, als er im ZDF vor laufenden Kameras den Deutschen Fernsehpreis ablehnte und den "täglichen Blödsinn" im TV kritisierte.
Am 27. Januar 2012 hatte Marcel Reich-Ranicki seinen letzten großen öffentlichen Auftritt: Er sprach bei der Holocaust-Gedenkstunde im Deutschen Bundestag. Dort schilderte er noch einmal eindringlich, wie er den Beginn der Deportation in die nationalsozialistischen Vernichtungslager erlebte.
mm/nem (dpa, afp, epd)