Deutschlands schmutzige Kohle aus Kolumbien
27. Mai 2022Das, was die Dorfbewohner in der Nähe nur "Monster" nennen, erstreckt sich über 69.000 Hektar, eine Fläche beinahe so groß wie 100.000 Fußballfelder. Es schluckt Tag für Tag 30 Millionen Liter Wasser, in dem kargen Halbwüstengebiet der zweitärmsten kolumbianischen Provinz La Guajira. Dafür stillt es den Hunger nach Kohle auch in Ländern wie Deutschland, mit einer Produktion von 30 Millionen Tonnen jährlich.
Sein Name: El Cerrejón, der größte Steinkohletagebau Lateinamerikas und eine der größten Minen der Welt, Eigentum des Schweizer Unternehmens Glencore. Wenn es nach Bundeskanzler Olaf Scholz geht, wird das "Monster" verstärkt dafür sorgen, dass die Deutschen im nächsten Winter nicht frieren müssen. Anfang April hatte der Bundeskanzler seinen kolumbianischen Amtskollegen Ivan Duque angerufen, schließlich braucht Deutschland schnell Ersatz, um sich von russischer Kohle unabhängig zu machen.
Eine klassische Win-Win-Situation also, sollte man denken. Nur nicht für Menschen wie Dulcy Cotes. Sie sagt: "Die transnationalen Unternehmen schnüren uns mit ihrer Gier nach Profit die Luft zum Atmen ab."
Unangemeldeter Besuch einer bewaffneten Gang
Cotes gehört zu den knapp 700.000 indigenen Angehörigen der Wayuu, die in Venezuela und im Nordosten Kolumbiens leben. Vor mehr als 500 Jahren gehörten sie zu den ersten, die unter den europäischen Eroberern leiden mussten. Ein halbes Jahrtausend später gehörten sie zu den ersten Opfern von illegal bewaffneten Drogenkartellen, wurden ermordet, erpresst und vertrieben. Jetzt wiederholt sich die Geschichte für die Wayuu zum dritten Mal: Weil viele von ihnen in der Nähe des schwarzen Goldes von El Cerrejón wohnen, leben sie erneut gefährlich.
"Einer unserer indigenen Anführer, der sich dafür einsetzt, dass der Bruno-Bach nicht durch das Bergbauunternehmen umgeleitet wird, um weiter Kohle zu fördern, hat vor einem Monat von drei bewaffneten Männern auf Motorrädern Besuch bekommen. Solche Einschüchterungsversuche sind typisch gegen alle, die sich für Umwelt und Menschenrechte einsetzen."
Dulcy Cotes kennt diese ständigen Anfeindungen, auch sie ist eine beliebte Zielscheibe als organisiertes Mitglied der "Fuerzas Mujeres Wayuu", der "Kräfte der Wayuu-Frauen", die sich mit aller Macht gegen die Auswirkungen des Bergbaus zu wehren versuchen. Sie sagt: "Viele Gemeinden mussten schon wegziehen, weil sich die Mine immer näher an sie herangefressen hat. Wir fühlen uns nicht sicher."
Bergbau: Einnahmequelle, die Menschen krank macht
Aber auch durch die Wayuu-Gemeinde geht ein Riss: Da sind Menschen wie Cotes, die auf die Barrikaden gehen. Auf der anderen Seite diejenigen, die im Cerrejón arbeiten und das Geld dringend brauchen: Tausende sind dort im Tagebau beschäftigt in einer Region, die sonst kaum Möglichkeiten für Arbeit bietet und wo jeder Zweite unterhalb der Armutsgrenze lebt. Doch Dulcy Cotes weiß, was für ein Knochenjob es ist, in der Mine zu schuften.
"Die Menschen, die dort beschäftigt sind, arbeiten zwölf Stunden am Stück, von 6 Uhr morgens bis 18 Uhr abends Frühschicht oder von 18 Uhr bis 6 Uhr morgens Nachtschicht, sie schlafen kaum. Dadurch und durch den vielen Staub werden sie krank. Es ist eine maximale Ausbeutung. Wenn sie wegen einer Krankheit auf eine Abfindung pochen, müssen sie das einklagen, nie kommt es von der Firma selbst."
Ausgerechnet kolumbianische Kohle für Klimaretter Deutschland?
Wenn Kolumbianer und Kolumbianerinnen wie Cotes bei ihrem Kampf David gegen Goliath keinen Ausweg mehr sehen, heißt ihr letzter Strohhalm "Cajar" - eine Menschenrechtsorganisation in Kolumbien, die seit mehr als 40 Jahren Tausende von Kleinbauern, indigenen Führern, Studenten und Gewerkschaftern juristisch vertritt.
"Cajar"-Anwältin Rosa María Mateus Parra sagt: "Es ist schon ein Widerspruch in sich, dass Deutschland Kohle aus einer Mine mit so vielen Problemen und Klagen importieren will. Jedes Land in Europa sollte sich bei so einer Vorgeschichte eigentlich weigern. Und nun will ausgerechnet Deutschland mehr Kohle aus Kolumbien, das Land, das doch weltweit für einen Kohleausstieg wirbt?"
Was Olaf Scholz über El Cerrejón wissen sollte
Mateus Parra könnte Bundeskanzler Scholz viel über El Cerrejón erzählen, es ist keine schöne Geschichte, eher reiht sich ein grauenvolles Kapitel an das nächste: Sie lauten Ausbeutung und Enteignung, Zwangsumsiedlungen und Vertreibungen oder auch Zerstörung und irreparable Schäden für die Umwelt. Und dazu eine Kindersterblichkeit, die in den letzten Jahren rasant anstieg: 5000 Wayuu-Kinder verhungerten und verdursteten in der Region um die Mine. Eine Schreckenszahl, die sogar die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte auf den Plan rief.
"Dafür verantwortlich ist der Wassermangel, weil Flüsse und Bäche kontaminiert oder ausgetrocknet sind. Und der Mangel an Lebensmitteln, weil dort, wo die indigenen Gemeinden ihr Gemüse angebaut haben, jetzt Kohle gefördert wird. Die Kinder, die überleben, haben Hautausschlag und Atemwegserkrankungen wegen der Feinstaubbelastung, all das haben wir auch vor Gericht nachgewiesen", sagt die Menschenrechtsanwältin.
Letzte Hoffnung: ein neuer Präsident
Und der kolumbianische Staat? Mateus Parra winkt ab, große Hoffnungen setzt sie jetzt auf den Wahlsieg von Gustavo Petro bei den Präsidentschaftswahlen am kommenden Sonntag. Der frühere Guerillero, Ökonom und ehemalige Oberbürgermeister der Hauptstadt Bogotá sei der Einzige, der dem Raubbau an der Natur kritisch gegenüberstehe. Die anderen Kandidaten dagegen, so die Menschenrechtsanwältin, propagierten Kontinuität: der Kohleexport als Mittel, um die einheimische Wirtschaftskrise in den Griff zu bekommen.
"Die Provinzregierung von Guajira gehört zu den korruptesten des Landes und was wir aus Bogotá beobachten ist eine Politik, die gegenüber den wirtschaftlichen und unternehmerischen Interessen vor allem eines ist: unterwürfig! Man schaut nicht so genau hin, wenn eine Firma wie 'Carbones del Cerrejón' sich mit dem Schutz der Fauna, Flora und der Wiederaufforstung brüstet, die Realität aber eine komplett andere ist."
"Garzweiler dagegen ein Kindergarten"
Stefan Ofteringer hat das "Monster" schon mit eigenen Augen gesehen, er war vor einigen Jahren am Rande der Mine. In der Gluthitze von La Guajira schlenderte der Berater für Menschenrechte in Kolumbien beim Bischöflichen Hilfswerk Misereor am Tagebau entlang, aus dem Kopf geht ihm das bis heute nicht: "Da ist zum einen diese massive Zerstörung. Dann diese enorme Feinstaubbelastung sowohl durch den Abbau und durch den Transport. Und das Beben der Erde und der Lärm durch die täglichen Sprengungen. Der deutsche Tagebau Garzweiler ist dagegen ein Kindergarten."
Misereor zählt zu den 160 Organisationen aus 30 Ländern, die Anfang Mai mit der Kampagne "Leben statt Kohle" Scholz und Duque dazu aufgerufen haben, besser heute als morgen die Finger von der Kohle aus El Cerrejón zu lassen. Und davor darauf zu pochen, dass Menschenrechts- und Umweltstandards endlich eingehalten werden. "Eine Umleitung des nahen Bachlaufs, wie von den Minenbetreibern forciert, um mehr Kohle zu fördern, wäre eine sozioökologische Katastrophe."
Besteht das Lieferkettengesetz den Realitäts-Check?
Ofteringer setzt nun große Hoffnungen auf das im vergangenen Jahr vom Bundestag verabschiedete Lieferkettengesetz. Deutsche Unternehmen sind demnach auch beim Kohleimport aus Kolumbien dazu verpflichtet, Missstände zurückzuverfolgen und abzustellen. Gefordert sind dann Energieunternehmen wie Steag und EnBW, auch Uniper und RWE kaufen Kohle aus Kolumbien.
Das "Monster" El Cerrejón könnte also, wenn alles gut läuft, seinen Schrecken verlieren, bis 2034 soll die Mine noch in Betrieb bleiben. Doch der Menschenrechtler sagt auch: "Bisher haben die Unternehmen nie Standards gesetzt, die der lokalen Bevölkerung gerecht wurden. Und der Benefit des Bergbaus in Kolumbien kam bisher immer dem Kapital zugute, aber nie der verarmten Bevölkerung."