Die EU und der Rechtsstaat: Spätes Erwachen
30. September 2020Es klang fast defensiv, als EU-Kommissarin Vera Jourova (im Bild oben) die Kriterien erläuterte, nach denen die Rechtsstaatlichkeit in allen 27 Mitgliedsländern bewertet wurde. Man wolle mögliche Probleme schon früh benennen, dies sei ein vorbeugender Mechanismus, sagte die Tschechin. Der Bericht sei objektiv, alle Länder würden darin nach den gleichen Maßstäben beurteilt und es gebe negative wie positive Beobachtungen.
Streben nach Transparenz
Die Kommission wollte den Anschein der politischen Parteilichkeit strikt vermeiden. In allen Mitgliedsländern haben die Mitarbeiter der Kommission mit den öffentlichen Behörden, den Parlamenten, Vertretern der Zivilgesellschaft, Berufsverbänden und weiteren Organisationen gesprochen, um ihre Bewertung zu erstellen.
Es geht in diesem ersten Bericht um die Rechtsstaatlichkeit in vier zentralen Bereichen: Freiheit der Medien, Korruptionsbekämpfung, Pluralismus der Gesellschaft und Funktionsweise der Justiz. "Ich bin in einem autoritären Staat aufgewachsen, wo Gleichheit vor dem Gesetz eine Illusion war und eine politisch ernannte Justiz kein Recht sprach", erklärt die unter kommunistischer Herrschaft in der früheren Tschechoslowakei geborene Jourova.
Es gehe um die Begrenzung der Macht bei den Regierungen, die Gewaltenteilung, Gleichheit vor dem Gesetz und andere Grundsätze, die zu den Gründungsprinzipien der EU gehörten. "Das Fehlen von Rechtsstaatlichkeit hat konkrete Auswirkungen", sagt die Kommissarin.
Polen
"Die Justizreformen in Polen seit 2015 waren eine der Hauptursachen für Kontroversen, im Land wie in der EU und gaben Anlass für ernsthafte Besorgnis", kritisiert die Kommission. Der Einfluss der Exekutive, also der Politik, sei stetig gewachsen und die Unabhängigkeit der Justiz geschwächt worden. Es wurden zwei Vertragsverletzungsverfahren durch die EU angestrengt und mehrere Klagen beim Europäischen Gerichtshof.
Strukturelle Schwächen seien auch bei der Anti-Korruptionsbehörde festgestellt worden und es gebe Zweifel an der Unabhängigkeit der Aufsichtsbehörde für Medien. Es fehle die Transparenz über die Eigentumsverhältnisse von Presseorganen. Auch das System der demokratischen "checks and balances" sei geschwächt, so dass zum Beispiel die Opposition und betroffene Berufsverbände in Gesetzesvorhaben nicht einbezogen wurden.
Ungarn
Bei Ungarn ist die Liste der Kritikpunkte schier allumfassend: Die Unabhängigkeit der Justiz gebe seit langem Anlass zur Sorge, etwa bei der Benennung oberster Richter. Beim Kampf gegen die Korruption fehlten unabhängige Kontrolleure und die enge Verbindung zwischen Politik und Staatsunternehmen befördere Bestechlichkeit. Korruptionsvorwürfe würden nicht verfolgt und die Kontrolle durch die Zivilgesellschaft schrumpfe, weil die Medienfreiheit zunehmend eingeschränkt werde. Das Klima für Nicht-Regierungsorganisationen werde immer feindlicher und die Informationsfreiheit geschwächt.
Bei der Presse gebe es Zweifel an der Unabhängigkeit der Aufsichtsbehörde, es fehle Transparenz bei Medienkonzentration und Eigentümerschaft. Die Regierung beeinflusse Medien zudem durch die systematische Vergabe von Anzeigen. Unabhängige Medien würden systematisch behindert und eingeschüchtert.
Fehler findet die Kommission auch beim Gesetzgebungsverfahren, wobei die zunehmende Schwächung von unabhängigen Institutionen und der Druck auf die Zivilgesellschaft eine Rolle spiele. Alles in allem bekräftigt der Bericht die Einschätzung von Kommissarin Vera Jourova, die im Interview die ungarische Demokratie "kränklich" genannt hatte. Was ihr eine Rücktrittsforderung und eine Art Kontaktsperre von Premier Viktor Orban eintrug.
Bulgarien, Malta und andere…
In Bulgarien wird die langsame Umsetzung von notwendigen Justizreformen kritisiert. Und trotz einiger Verbesserungen bei der Korruptionsbekämpfung blieben "große Herausforderungen" und das Vertrauen der Öffentlichkeit sei gering. Seit Monaten gibt es Massendemonstrationen in Bulgarien, die sich vor allem gegen die als korrupt kritisierte Regierung richten. Probleme werden auch bei der Umsetzung der Pressefreiheit und der weiteren Einschränkung der Arbeit von Nicht-Regierungsorganisationen festgestellt.
In Malta wiederum werden tiefgreifende Strukturen der Korruption benannt und die Beschleunigung von begonnenen Reformprozessen gefordert. Das gleiche gilt auch für die Unabhängigkeit der Justiz, wo Malta schwere Defizite habe. Nach dem Mord an Daphne Garuana Galizia gebe es außerdem Sorge um die Sicherheit von Journalisten, die zudem unter rechtlicher Einschüchterung leiden. Auch hier ist die Liste der Kritikpunkte lang.
Mängel gibt es aber auch in Deutschland, etwa bei der Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft und der zu langsamen Digitalisierung der Justiz. Und in Italien wie auch in Griechenland wird die Langsamkeit von Gerichtsverfahren kritisiert. Auch in "Musterländern" demokratischer Entwicklung finden sich also einzelne Punkte, die die Kommission für verbesserungswürdig hält.
Zahnlose Kritik?
"Sie bellen nur, sie beißen nicht", kritisiert Greenpeace die Bestandsaufnahme aus Brüssel und bemängelt das Fehlen handfester Sanktionen. Auch Europaabgeordnete von den Grünen nennen den Bericht enttäuschend. Es fehlten die Grundrechte und der Minderheitenschutz, beklagt Sergey Lagodinsky. Die EU-Kommissare müssen wiederum einräumen, dass ihr Hauptmittel der "Dialog" sei und sie nur die bekannten Instrumente aus dem Werkzeugkasten der EU hätten, die sich allerdings seit Jahren als unwirksam erweisen.
Hier bekommt die heute getroffene Entscheidung Gewicht, wonach Deutschland als Ratspräsidentschaft beauftragt wird, mit dem Europaparlament über finanzielle Strafen für nachhaltige Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit zu verhandeln. In diesen Fällen könnten künftig die EU-Mittel gekürzt oder sogar gestrichen werden.
Eine Mehrheit der Mitgliedsländer sei dafür, schrieb Präsidentschaftssprecher Sebastian Fischer auf Twitter, wenn auch die Debatte "polarisiert" sei. Polen und Ungarn kämpfen vehement gegen die Einführung eines solchen Mechanismus und drohen damit, den gesamten EU-Haushalt und den Corona Wiederaufbau-Fonds zu blockieren. Der Verhandlungsführer des EP, Petri Sarvaama aus Finnland, erwartet "sehr, sehr schwierige und harte Verhandlungen".