Die Kneipe - das Wohnzimmer der Deutschen
13. Mai 2020Totgesagt wurde die Kneipe schon oft. 1953 legte der Bundesgerichtshof die erste Promillegrenze im Straßenverkehr fest – allerdings ließen die damals erlaubten 1,5 Promille noch ausreichend Spielraum für das eine oder andere Feierabendbier. Als sich in den 1960er Jahren immer mehr Haushalte einen Fernseher leisten konnten, schien der Schankwirtschaft endgültig das Totenglöckchen zu läuten. Doch die Kneipe überlebte die neue Technologie ebenso gelassen wie die Verbreitung des Flaschenbiers und die spätere Reduzierung der Promillegrenze auf 0,8 und 0,5 Promille.
"Ein Bierzapf ist ein gutes Gewerbe", hieß es schon Ende des 16. Jahrhunderts in dem Shakespeare-Drama "Die lustigen Weiber von Windsor". Solch eine Institution lässt sich so leicht nicht unterkriegen. Selbst das Nichtraucherschutzgesetz konnte ihr 2008 nichts anhaben. Im Gegenteil: Damals wurden Eckkneipen bald wieder vom Rauchverbot befreit, ehe es zu generellen Lockerungen kam.
Es scheint also, als hätte die Kneipe durchaus eine Lobby – auch wenn es manche Wirte in Zeiten der Coronakrise anders empfinden: Seit Mitte März mussten die Barhocker an ihren Tresen leer bleiben, um die Ausbreitung der Pandemie einzudämmen. Das hat der Branche arg zugesetzt, der Umsatz fiel von heute auf morgen auf Null.
Die Kneipe als Zwischenort
"Die Kneipe ist ein Zwischenort zwischen Familie und Arbeitswelt", sagt Christoph Wulf, Professor für Anthropologie an der FU Berlin. "Sie ist lokal, man trifft keine Freunde, sondern Bekannte." Der Ort biete etwas, das es in dieser Konstellation sonst nicht gebe: Anonymität und Vertrautheit gleichzeitig. "Man hält nicht Distanz, sondern nähert sich an."
Wenn Deutschlands Kneipen in diesen Tagen nach dem Corona-bedingten Lockdown wieder öffnen, ist das ein großer Schritt zur Normalität - auch wenn viele Plätze wegen der geltenden Abstandsgebote frei bleiben müssen. Welche Kneipen trotz der Lockerungen schließen müssen, ist noch nicht abzusehen. Niemand weiß, wie lange die Pandemie andauern wird – und wie groß die Bereitschaft der Gäste jetzt schon ist, trotz der Virusgefahr mit anderen Menschen in geschlossene Räume zurückzukehren.
Laut des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes (Dehoga) hatte bis Ende April jeder dritte Betrieb gemeldet, dass die Liquidität nach dem Lockdown weniger als 20 Tage ausreichen würde. Die Dunkelziffer liegt vermutlich höher. Unter Druck war die Branche schon vor Corona. Bundesweit ging die Zahl der Kneipen von 2012 bis 2018 um knapp 3.800 zurück. Allerdings gab es in den Gesamtzahlen schon immer regional unterschiedliche Entwicklungen: Während sich die Zahl der Schankwirtschaften in Hamburg zwischen 2001 und 2011 fast halbiert hatte, verdoppelte sie sich im gleichen Zeitraum in Berlin.
Das Gegenteil der Filterblase
In der klassischen Eckkneipe treffen Studenten und Kleinbürgertum auf Gäste aus der Mittelschicht. Dort stehen normale Leute bei einem kühlen Bier, Korn und manchmal auch Wein beieinander. Unterschiedliche Meinungen können hier aufeinandertreffen, Probleme öffentlich diskutiert werden. In Zeiten zunehmender Aggressivität in sozialen Netzwerken ist die Kneipe das Gegenteil einer Filterblase.
Die Kneipe hat ihren Ursprung auch im Erscheinungsbild konserviert: Bis heute hat sich das schwere und dunkle Holzinterieur gehalten, in vielen Fenstern hängen noch die einst blütenweiß-geschwungenen Blümchengardinen, inzwischen vergilbt vom Rauch unzähliger Zigaretten. Und für den kleinen Hunger gibt es, je nach Lokalität und Region, Rollmops, Sol-Ei, Bulette oder Brezel.
Natürlich spiele auch der Alkohol eine Rolle, meint der Anthropologe Christoph Wulf: "Es geht nicht um Betrunkenheit, sondern den Zustand des leichten Rausches." Damit verbunden sei ein "Ausbrechen aus der Strenge, Disziplin und Rationalität des Alltags".
Dieses Gefühl beschrieb der disziplinierte und eben nicht exzessiv lebende Schriftsteller Thomas Mann 1906 in seinem Essay "Über den Alkohol": Es sei "ein Zustand, aufs innigste zu wünschen, ein Zustand, der gelegentlich vielleicht sogar noch einen brauchbaren Einfall mit sich führt, aber ein Zustand, der dem der Arbeit, des Kampfes, des Bezwingens genau entgegengesetzt ist".
Soziale Funktion
Anders als manche soziale Begegnung, lässt sich der Kneipenbesuch in Coronazeiten nicht im Videochat simulieren. "Man ist körperlich dort, also als Person in der Kneipe anwesend", sagt Wulf. Auch Skatrunden oder eine Partie Billard hätten eine erhebliche soziale Bedeutung: "Die Spieler treten gemeinsam in eine andere Welt ein, in einen dritten Raum." Die Kneipe sei eben mehr als eine Spelunke für Trinker. "Der Besuch ist ein wichtiges Ritual, man spürt die Vertrautheit mit dem Ort und den Leuten."
Diese Ritualisierung fehlte nun über Wochen. "Menschen sind in dieser Situation viel stärker mit Einsamkeit konfrontiert, besonders in der Großstadt", sagt Wulf. Es liege in der Natur des Menschen, sich mit anderen auszutauschen. "Es gibt einen Lebenssinn, sich zu treffen. Das muss nicht zielgerichtet sein", sagt Wulf. Wichtig sei nicht, "worüber man spricht, sondern dass man spricht".