"Das Geheimarchiv im Warschauer Ghetto"
27. Januar 2019Wer wird unsere Geschichte schreiben? "Who will write our history?" Unter diesem Titel veröffentlichte der Historiker Samuel Kassow 2007 sein Buch über Emanuel Ringelblum und das Geheimarchiv im Warschauer Ghetto. Auf diesem Text basiert der neue Dokumentarfilm der US-amerikanischen Regisseurin Roberta Grossman.
Darin erzählt sie die Geschichte des polnischen Historikers Emanuel Ringelblum, der im Herbst 1940 mit zehntausenden - am Ende waren es eine halbe Million - jüdischen Leidensgenossen von den deutschen Besatzern in einen engen Warschauer Stadtbezirk gesperrt wurde. 70.000 Menschen starben hier allein im ersten Jahr des "Warschauer Ghettos" an Krankheiten und Unterernährung. Als "Vorstufen der Vernichtung" beschreibt der Holocaust-Forscher Wolfgang Benz die Funktion der Ghettos. Und eben das scheint auch Emanuel Ringelblum geahnt zu haben, angesichts des alltäglich im Ghetto erlebten Grauens und Terrors. Er beschloss, alles für die Nachwelt zu archivieren.
Verwahrt in Milchkannen und Blechkisten
"Oyneg Shabbes", "Freude am Schabbat" - diesen Tarnnamen gaben Ringelblum und 60 Mitstreiter ihrem geheimen Archiv, das die Gräuel des Holocaust, aber auch jüdisches Leben und Kultur vor dem Krieg dokumentieren sollte. Sie begannen, einzigartige Dokumente zusammenzutragen: Fotos, Filme, Plakate, Zeitungsberichte, Lebensmittelkarten, Tagebücher und Gedichte, Schriftstücke der deutschen Besatzer, aber auch vermeintlich unwichtige Alltagsgegenstände. Dies alles wurde in Metallkästen und Milchkannen versteckt.
Emanuel Ringelblum wurde 1944 von den Deutschen erschossen. Doch drei seiner Archiv-Mitarbeiter überlebten den Holocaust - und zehn Blechkisten mit etwa 1700 Archivstücken wurden im Herbst 1946 unter den Trümmern des komplett zerstörten Ghettos ausgegraben. Ein paar Jahre später wurden noch zwei große Milchkannen und Bruchstücke eines Tagesbuchs entdeckt.
Hoheit über die eigene Geschichtsschreibung
"Sollen die Deutschen unsere Geschichte schreiben, oder wir?" fragt zu Beginn des Films die Stimme Rachel Auerbachs. Die Journalistin und Literaturkritikerin betrieb im Ghetto eine Suppenküche - und gehörte zu den frühen Mitarbeiterinnen des Geheimarchiv-Projekts ihres Bekannten Emanuel Ringelblum. Bei dieser Arbeit und dem alltäglichen Kampf gegen den Hunger im Ghetto begleitet der Film Auerbach: mit Dokumenten, Zitaten und nachgestellten Szenen (unser Titelbild zeigt, wie Ringelblum Dokumente sichert).
Immer wieder geht es dabei um den Hunger in dem von den Deutschen systematisch unterversorgten Ghetto. Eine Strategie dagegen: "Schreiben, als letzter Beweis, dass du dir noch selber gehörst", heißt es an einer Stelle im Film. Also schrieben Auerbach und Ringelblum. Es ging ihnen darum, die Hoheit über die eigene Geschichtsschreibung zu bewahren: Mit Verweis auf frühe Foto- und Film-Aufnahmen aus dem Ghetto mahnt ein Zitat der 1976 verstorbenen Rachel Auerbach aus dem Off: "Wir blicken hier durch eine deutsche Linse."
Das schier Unglaubliche an dieser Geschichte ist der späte Sieg des Archivs: Am Ende kannten nur noch drei Menschen die Verstecke, und nur zwei der vier Verstecke blieben unversehrt - eines wird bis heute im Boden von Warschau vermutet. Die erhaltenen Archivalien von "Oyneg Shabbes" wurden 1999 von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt. Sie sind und bleiben eine zentrale Quelle für das heutige Wissen über die Schoa.
So wie Roman Polanskis Film "Der Pianist" von 2002 mit seiner Darstellung des Warschauer Ghettos unser Bild davon nachdrücklich geprägt hat, so lässt Roberta Grossmans Doku-Drama mit seinen realistisch nachgestellten Alltagsszenen, flankiert und unterstrichen von historischen Belegen und Zitaten, den Zuschauer mindestens genauso berührt und nachdenklich zurück.
Anlässlich des Holocaust-Gedenktags am 27. Januar wird "Das Geheimarchiv im Warschauer Ghetto" (im Original "Who Will Write Our History") in 45 Ländern weltweit öffentlich gezeigt: unter anderem im Unesco-Hauptquartier in Paris, im United States Holocaust Memorial Museum in Washington D.C., im Museum of Tolerance in Los Angeles, im Emanuel Ringelblum Jewish Historical Institute in Warschau sowie in 300 weiteren Museen, Kinos, Theatern und Unesco-Außenstellen.
In der Mediathek des TV-Senders Arte ist der Film noch bis zum 14. April 2019 verfügbar, in der ARD-Mediathek bis zum 22. April.