Eidgenossen vor ungewisser Zukunft
10. Februar 2014Eberhard Wolff zeigt sich alles andere als überrascht. Seit Jahren lebt Wolff, der aus der Region Ulm kommt, in der Schweiz, arbeitet in Zürich als Literaturwissenschaftler. Und seit Jahren weiß er, dass die Schweizer zwei Seelen in einer Brust haben, wenn es um ausländische Mitbürger geht. "Als Deutscher hat man in der Schweiz das Gefühl, eigentlich nicht richtig akzeptiert zu sein", sagt Wolff. Auf der anderen Seite sei die Schweiz "ein extrem fremdenfreundliches Land, das immer wieder in bedrohten Zeiten auch Fremde aufgenommen hat".
Hier die Schweizer, die sich gegenüber Ausländern reserviert, bisweilen sogar fremdenfeindlich zeigen, dort die Schweizer, die sich tolerant geben - diese Wahrnehmung von Eberhard Wolff spiegelt sich auch im Abstimmungsergebnis der Volksabstimmung wieder. Knapp mehr als die Hälfte der Abstimmungsteilnehmer, 50,3 Prozent, votierten für ein Ende der mit der EU vereinbarten Personenfreizügigkeit; etwas weniger als die Hälfte stimmte dagegen.
Ausländische Fachkräfte für Wirtschaft unentbehrlich
Das Ergebnis hat weitreichende Folgen - auch für die rund 300.000 Deutschen, die in der Schweiz leben. Zukünftig dürfen sie und andere EU-Bürger nur noch dann in der Eidgenossenschaft leben und arbeiten, wenn sie unbedingt gebraucht werden. Dafür sollen Kontingente eingeführt werden. Wie so ein Beschluss praktisch umgesetzt werden soll, kann sich Ute Mäster nicht so recht vorstellen. Die Mittfünfzigerin stammt aus Schleswig-Holstein und arbeitet seit langer Zeit im Pflegedienst des Universitätsspitals Zürich.
"Im Pflegebereich sind über 50 Prozent der Berufstätigen Ausländerinnen und Ausländer. Ohne Migranten würde das Unternehmen Uni-Spital Zürich gar nicht funktionieren", sagt Mäster. Eine Einschätzung, die auch Vertreter der Schweizer Wirtschaft teilen. "Ohne ausländische Arbeitskräfte könnten Sie kein Spital in der Schweiz betreiben", sagt Philipp Mosimann, Geschäftsführer des Anlagenbauers Bucher AG in Zürich und Mitglied im Schweizerischen Arbeitgeberverband. Ähnliches gelte auch für die Baubranche, die Gastronomie und die Hotellerie.
Zwar sei der Ausländeranteil in der Schweiz mit derzeit 23 Prozent relativ hoch. Aber gerade die Ausländer seien als Motor für die Schweizer Wirtschaft unentbehrlich, betont Mosimann im Gespräch mit der DW. "Die Schweiz ist zu klein, um die benötigten Fachkräfte ausschließlich in der Schweiz rekrutieren zu können", macht Mosimann deutlich.
Wirtschaft rechnet mit höheren Kosten
Er glaubt, dass die Anfang Januar in Deutschland geführte Debatte über Einwanderer aus Rumänien und Bulgarien das Zünglein an der Waage für das Abstimmungsergebnis in der Schweiz gewesen sein könnte. "Diese Debatte in Deutschland hat die Befürworter in der Schweiz beflügelt zu sagen: Schaut, in Deutschland hat man diese Diskussion schon bei einem Drittel der Zuwanderung proportional gesehen zu dem, was wir in der Schweiz haben."
Das Abstimmungsergebnis ist für Mosimann ein Desaster. Dass an die Stelle der Arbeitnehmer-Freizügigkeit nun eine Kontingentlösung für Arbeitnehmer aus dem Ausland treten soll, tröstet den Geschäftsführer der Bucher AG wenig: "Es wird die Kosten hochtreiben, die Kosten für die Administration. Denn wir müssen ja nachweisen, dass wir keinen Schweizer für die Stelle gefunden haben. Dann müssen wir im Ausland suchen. Und ein Bürokrat in Bern wird dann entscheiden, ob wir diese Person anstellen dürfen."
Zuwanderungsbegrenzung soll Probleme lösen
Lukas Reimann sieht das alles völlig anders. Der 31-Jährige aus Wil im Ostschweizer Kanton St. Gallen sitzt für die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP), Initiator des Referendums, im Nationalrat, dem Schweizer Bundesparlament. Für Reimann ist das Abstimmungsergebnis ein Riesenerfolg. Denn bislang kämen jährlich rund 80.000 Ausländer zusätzlich in die Schweiz. Und dieses hohe Maß an Zuwanderung könne die kleine Alpenrepublik mit ihren gerade mal acht Millionen Einwohnern kaum mehr verkraften.
"Es gibt große Probleme auf dem Arbeitsmarkt. Die Löhne werden gedrückt, wenn günstigere Arbeiter aus dem Ausland kommen. Im Wohnungsmarkt steigen die Preise massiv, weil nicht so viele Wohnungen gebaut werden, wie Leute zusätzlich einwandern." Zudem käme es zu Verkehrsproblemen, "wenn jedes Jahr 80.000 Leute mehr auf der Straße und im Zug sind", erläutert Reimann. "Und die Kriminalität steigt. Also eine ganze Palette von Problemen."
EU-Verträge auf der Kippe?
Während Reimann und seine Parteifreunde von der SVP fest daran glauben, dass diese "ganze Palette von Problemen" nach dem jüngsten Volksentscheid wieder kleiner wird, befürchten viele andere in der Schweiz genau das Gegenteil. Sie glauben, dass durch den Volksentscheid das Verhältnis zur Europäischen Union nachhaltig beschädigt wird.
"Das größte Problem ist die materielle Reaktion der EU. Es gibt dort die so genannte 'Guillotine-Klausel', die es der EU erlauben würde, die gesamten bilateralen Verträge zu kippen", erläutert Urs Leuthard, erfahrener Politik-Journalist des Schweizer Fernsehens SRF. "Die ganz große Frage ist: Würde es die EU tatsächlich darauf hinauslaufen lassen, diese Verträge zu kippen? Dann würde die Schweiz vor einer enormen Herausforderung stehen, all diese wirtschaftlichen Verträge neu auszuhandeln." Welche Folgen der Volksentscheid also tatsächlich haben wird, ist jetzt noch nicht abzusehen.