Wer bekommt Recht: Seehofer oder die AfD?
8. Juni 2020Leise Töne waren noch nie seine Sache. Wenn Horst Seehofer seine Meinung sagt, dann oft und gerne deftig. Der deutsche Innenminister kommt schließlich aus Bayern, dem Kernland der politischen Bierzelt-Kultur. Ein Mix aus trinkfester Gemütlichkeit und handfestem Abkanzeln der Konkurrenz im Kampf um Macht und Mandate. Draufhauen - natürlich nur mit Worten - ist bei einer solchen Veranstaltung erste Politikerpflicht. Deshalb dürfte sich auch die Alternative für Deutschland (AfD) kaum darüber wundern, in einem Bierzelt von Seehofer in die Pfanne gehauen zu werden.
Das hat der CSU-Politiker auch schon zur Genüge getan, ohne dafür von den Rechtspopulisten gleich juristisch belangt zu werden. Doch im September 2018 hörte der Spaß für die AfD auf und sie zerrte den Innenminister vor das Bundesverfassungsgericht. Der Anlass: ein Interview mit der Deutschen Presse-Agentur (dpa), in dem Seehofer die Partei frontal attackierte. Was das Fass aus ihrer Sicht zum Überlaufen brachte, war die Platzierung des Interviews auf der offiziellen Homepage des Ministeriums.
Als "staatszersetzend" bezeichnete Seehofer das Agieren der AfD, die kurz zuvor Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in einer Parlamentsdebatte vorgeworfen hatte, seine Neutralitätspflicht verletzt zu haben. Hintergrund war Steinmeiers Unterstützungsaufruf für ein Konzert gegen Rassismus in Chemnitz. Das missfiel der AfD vor allem deswegen, weil auch die Punkband "Feine Sahne Fischfilet" an der Veranstaltung teilnahm. Die wiederum wurde in Verfassungsschutzberichten mehrmals als "linksextremistisch" eingestuft.
Johanna Wanka ärgerte sich über die "Rote Karte für Merkel!"
Auch die Vorgeschichte des Seehofer-Interviews ist also brisant. Doch darum geht es nicht, wenn das Bundesverfassungsgericht am Dienstag sein Urteil fällt. Beantwortet wird die knifflige Frage, wie weit "Äußerungsbefugnisse von Regierungsmitgliedern" gehen dürfen. In einem auf den ersten Blick ähnlich gelagerten langjährigen Streitfall war die AfD 2018 erfolgreich. Sie fühlte sich durch eine Pressemitteilung der damaligen Bundesbildungsministerin Johanna Wanka benachteiligt. Darin hatte die Christdemokratin 2015 auf der Homepage ihres Hauses die Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin verteidigt.
Anlass war eine von der AfD angemeldete Demonstration unter dem Motto "Rote Karte für Merkel! - Asyl braucht Grenzen!". Wanka sprang ihrer Parteifreundin bei und drehte den Spieß mit ihrer offiziell verbreiteten Aufforderung um: "Die Rote Karte sollte der AfD und nicht der Bundeskanzlerin gezeigt werden." Die Ministerin bergründete ihren Appell unter anderem mit einem Hinweis auf den als besonders radikal geltenden AfD-Politiker Björn Höcke. Der und andere Sprecher der Partei leisteten der "Radikalisierung in der Gesellschaft" Vorschub.
Das Bundesverfassungsgericht sah in Form und Inhalt der Pressemitteilung eine "Beeinträchtigung der Chancengleichheit": Wanka habe den "Grundsatz der Neutralität staatlicher Organe im politischen Wettbewerb missachtet". Konkret monierte der jetzt auch in der Causa AfD versus Seehofer zuständige Zweite Senat, die Pressemitteilung beinhalte "einseitig negative Bewertungen" der AfD. Außerdem wurde die Verwendung der Metapher "Rote Karte" beanstandet. Die fordere erkennbar dazu auf, sich von der AfD zu distanzieren.
Die Urteilsbegründung im Fall Wanka liest sich fast wie eine Vorlage für die nun anstehende Entscheidung, in deren Mittelpunkt Seehofer steht. Und doch gibt es bei allen Parallelen auch Unterschiede, die den Innenminister auf ein für ihn gutes Ende hoffen lassen. Denn Wanka bediente sich 2015 gezielt und ausschließlich der Infrastruktur des damals von ihr geleiteten Ministeriums, um von der Teilnahme an einer AfD-Demonstration abzuraten. Seehofers Kritik an der Partei war hingegen eingebettet in ein längeres Interview über die Arbeit der Bundesregierung insgesamt.
Horst Seehofers Interview war schon vorher auf dem Markt
Das Agentur-Gespräch wurde von zahlreichen Zeitungen in ganz Deutschland auszugsweise oder komplett veröffentlicht. Die spannende Frage ist nun, wie das Verfassungsgericht den Umstand bewertet, dass Seehofers Ministerium den Text vorübergehend zusätzlich auf die eigene offizielle Homepage stellte. Anlässlich des Wanka-Urteils äußerte sich das Bundesverfassungsgericht dazu so grundsätzlich wie allgemein. Demnach sei die Bundesregierung berechtigt, "gegen ihre Politik gerichtete Angriffe öffentlich zurückzuweisen". Allerdings sei bei ihrer Kritik die "gebotene Sachlichkeit" zu wahren.
Ein "Recht auf Gegenschlag" hätten weder die Regierung noch einzelne ihrer Mitglieder, urteilte der Zweite Senat 2018. Jedenfalls nicht dergestalt, "dass staatliche Organe auf unsachliche oder diffamierende Angriffe in gleicher Weise reagieren dürfen". Unbenommen bleibt ihnen hingegen, "ihre politischen Entscheidungen zu erläutern und dagegen vorgebrachte Einwände in der Sache aufzuarbeiten".
Der Unterschied zwischen Partei- und Regierungspolitik
Diese Vorgaben beziehen sich aber ausdrücklich auf die klassische Informations- und Öffentlichkeitsarbeit der Regierung insgesamt oder einzelner Ministerien. Ein Interview ist etwas anderes, vergleichbar mit einem Wahlkampf- oder Talkshow-Auftritt. In diesem Sinne kritisierte Seehofer die AfD also nicht, während er sein Ministeramt ausübte, sondern als Parteipolitiker. Den offiziellen und damit staatstragenden Anschein erhielt das Interview erst, als es auf der Internetseite seines Hauses erschien.