Wo sind die Brüssel-Attentäter?
22. März 2017Die georgische Journalistin Ketevan Kardava war an diesem Frühlingsmorgen vor einem Jahr am Brüsseler Flughafen Zaventem. Sie wartete am Schalter, um ein Ticket nach Genf zu kaufen, als sich der erste Selbstmordattentäter in die Luft sprengte - nur wenige Meter entfernt von ihr. Kurz darauf zündete ein zweiter Mann seinen Sprengstoffgürtel. Tage später steht fest, wer die beiden Täter waren: Najim Laachraoui und Ibrahim El Bakraoui.
Laachraoui soll sich Ermittlungen zufolge 2013 der Terrormiliz "Islamischer Staat" angeschlossen haben. Im September 2015 habe er im gleichen Auto wie der Pariser Terrorverdächtige Salah Abdeslam die ungarische Grenze überquert. Obwohl die beiden dort kontrolliert wurden, konnten sie danach ungehindert weiter nach Frankreich fahren, wo am 13. November 130 Menschen getötet wurden.
Die Brüder Bakraoui
Ibrahim El Bakraoui war den belgischen Behörden bekannt. Vier Jahre saß er im Gefängnis, weil er nach einem Raubüberfall einen Polizisten erschossen hatte. Kurz nach seiner Freilassung 2014 tauchte er unter. Im Juni 2015 nahm ihn die türkische Polizei in Gaziantep an der Grenze zu Syrien fest und setzte ihn in ein Flugzeug nach Amsterdam. Obwohl er jetzt als höchst verdächtig gelten müsste, schlug niemand Alarm.
Auch Ibrahims jüngerer Bruder Khalid tauchte nach den Anschlägen am 13. November in Paris auf dem Radar der französischen Behörden auf. Er soll für die Pariser Terrorgruppe ein Haus im belgischen Charleroi gemietet haben, ebenso wie eine konspirative Wohnung in Brüssel. Die Fahndung blieb ergebnislos, sodass der 27-jährige Bakraoui-Bruder sich an einem weiteren Attentat beteiligen konnte - am 22. März in Brüssel. Ermittlern zufolge war er derjenige, der die tödliche Bombe in der Brüsseler Metro zündete. Dabei tötete er auch sich selbst.
Osama Krayem und Mohammed Abrini - zwei weitere Protagonisten der Brüsseler Attentate - sitzen inzwischen in belgischen Gefängnissen. Krayem soll an der Vorbereitung der Anschläge beteiligt gewesen sein. Abrini, der als "Mann mit Hut" bekannt wurde, sollte offenbar eine dritte Bombe am Flughafen zünden, flüchtete aber stattdessen. Er gilt als Kindheitsfreund von Salah Abdeslam.
Der meistgesuchte Mann Europas
Bei Abdeslam laufen viele Fäden zusammen. Seit den Pariser Anschlägen galt der in Brüssel aufgewachsene Franzose als meistgesuchter Mann und zweitwichtigste Figur des islamististischen Terrors in Europa - nach Abdelhamid Abaaoud. Abaaoud soll das Terrorkommando aufgebaut und bis zu seinem Tod im November 2015 bei einer Polizeirazzia im französischen Saint-Denis gesteuert haben.
Am 18. März vergangenen Jahres gelang belgischen Sicherheitskräften schließlich auch die Festnahme Abdeslams. Was dann geschah, gilt als folgenschweres Versagen belgischer Behörden: Obwohl Belgiens Außenminister noch am Tag der Festnahme Abdeslams ausdrücklich vor weiteren Anschlägen warnte, wurde der Attentäter offenbar nicht zu neuen Plänen befragt. Dass diese existierten, wurde vielen erst am 22. März schmerzhaft bewusst.
Offenbar setzte Abdeslams Festnahme die Terrorzelle so sehr unter Druck, dass sie überhastet zuschlug. Aus Sicherheitskreisen hieß es später, Abdeslam und seine Komplizen hätten ursprünglich in Brüssel auf dieselbe Weise zuschlagen wollen wie in Paris - mit Schießereien auf öffentlichen Plätzen. Auch von geplanten Autobomben war die Rede. Offenbar wollten die Attentäter noch wesentlich mehr Menschen mit in den Tot reißen.
Die unentdeckte Schlüsselfigur
Dann gibt es noch Oussama Atar. Bis heute stellen sich die Ermittler die Frage: Ist er der führende Kopf? Die Behörden glauben, dass sich der entfernte Cousin der Brüder Ibrahim und Khalid El Bakraoui hinter dem Decknamen "Abou Ahmad" verbirgt, der mehrfach während der Untersuchungen zu den Anschlägen von Paris und Brüssel auftauchte. Darauf weist unter anderem ein Laptop hin, der im Umfeld der Terroristen gefunden wurde. Atar soll maßgeblich für die Radikalisierung belgischer und französischer Dschihadisten beteiligt gewesen sein. Experten schätzen, dass er wichtiger sein könnte als Abaaoud und Abdeslam.
Der Belgier mit marokkanischen Wurzeln war 2000 in US-Gefangenschaft im Irak. Die Attentate 2015 und 2016 soll Atar aber aus Syrien heraus koordiniert haben, wo er sich auch heute noch aufhalten könnte. Genau weiß das niemand.
"Bei zahlreichen Dschihadisten in Syrien weiß man nicht, ob sie überhaupt noch leben", meint Asiem El Difraoui, Politikwissenschaftler und Terrorismusforscher. Inzwischen hätten die Ermittler herausgefunden, dass das Netzwerk der Terroristen weit größer sei als ursprünglich angenommen. "Man weiß aber noch nicht genau, wie die Verbindungen zu Syrien detailliert aussahen und ob alle Verbindungsmänner schon getötet sind", erklärt El Difraoui. Die belgischen Behörden teilten Ende vergangenen Jahres mit, Oussama Atar sei der einzige Koordinator aus Syrien, der während der Ermittlungen identifiziert wurde.
Verpasste Chancen
Atar ist auch ein Beispiel für verpasste Gelegenheiten. So hatten belgische Spezialkräfte den 32-jährigen Belgier marokkanischer Abstammung im vergangenen Sommer im Visier. Da soll sich der Mann in Brüssel im Stadtteil Molenbeek aufgehalten haben. "Wir wussten, dass er zurück war", zitierten belgische Zeitungen einen Polizeibeamten. "In Molenbeek sprach man seit Wochen von ihm."
El Difraoui meint, der belgische Staat sei zu lange über die verschiedenen Terrorgruppen und deren Verbindungen im Unklaren gewesen. Auch in Sachen Prävention gehe es nur schleppend voran. Stattdessen sei "die Polizei in Molenbeek so präsent, dass sie fast die Jugendarbeit stört, weil sie alle unter Generalverdacht stellt". Molenbeek ist ein Stadtviertel Brüssels, in dem einige der Attentäter von Paris und Brüssel aufgewachsen sind.
"Wir brauchen einen Marshallplan"
Sarah Turine ist zuständig für Jugendarbeit in Molenbeek. "Wir brauchen einen echten Marshallplan für unsere Jugend", meint sie. "Wir brauchen Geld für Prävention, Bildung und Kultur, um die Wurzeln der Radikalisierung zu bekämpfen." Obwohl die Regierung so viel angekündigt habe, sei nichts getan worden.
Tatsächlich weisen einige Berichte darauf hin, dass sich im Stadtteil Molenbeek immer mehr Menschen radikalisiert haben. Der belgische Terrorismusexperte Thomas Renard kennt die Sicherheitsstrukturen seines Heimatlandes gut. Zwar reisten weniger Belgier in den Irak oder nach Syrien, um sich dort IS-Kämpfern anzuschließen, meint er. "Aber die Angst, dass diese Leute zurückkommen, ist da." Seit 2012 seien 120 ausländische Kämpfer zurück nach Belgien gekommen, erläutert er. Je mehr der "Islamische Staat" an Einfluss im Nahen Osten verliert, desto mehr könnten es werden.