"Ein Sommernachtstraum" als Ballettfilm
22. Juni 2021Kaum ein Künstler war in Zeiten von Corona so kreativ und produktiv wie der 82-jährige Hamburger Ballettdirektor John Neumeier. Der Starchoreograf und die Tänzerinnen und Tänzer des Hamburg Balletts nutzten die spielfreie Zeit im Frühling und Sommer 2020, um mit "Ghost Light" ein berührendes Corona-Stück zu kreieren. Im Herbst konnte es sogar vor Publikum aufgeführt werden - bevor steigende Inzidenzzahlen die Kulturbetriebe wieder zum Schließen zwangen.
Während des zweiten deutschlandweiten Lockdowns im Februar 2021 setzten Neumeier und seine Mitstreiter ein weiteres, über lange Zeit gehütetes Projekt um: Der Repertoire-Klassiker "Ein Sommernachtstraum" wurde unter Studiobedingungen und in hochauflösender Qualität unter der Regie von Myriam Hoyer in der leeren Hamburgischen Staatsoper aufgezeichnet.
Der Film, gerade auf DVD erschienen, wurde - passend zum Thema - in der Sommernacht des 21. Juni, dem längsten Tag des Jahres, in einem Hamburger Kino gezeigt, als Teil des Programms der 46. Hamburger Ballett-Tage.
Ein Ballettfilm in höchster Qualität
Bereits 1977 schuf John Neumeier seinen "Sommernachtstraum" - eine märchenhafte choreografische Erzählung über Irrungen und Wirrungen der Liebe nach William Shakespeare zu Mendelssohn Bartholdys romantischer Musik und sphärischen Klängen von György Ligeti. Die Inszenierung wurde zum wohl beliebtesten Stück des Hamburg Balletts. Es erlebte mit unterschiedlichen Besetzungen allein in Hamburg mehr als 300 Aufführungen und ging auch ins Repertoire anderer führenden Compagnien der Welt ein, etwa dem Ballett der Pariser Oper oder des Bolschoi-Theaters in Moskau.
"Als die Idee aufkam, den 'Sommernachtstraum' zu verfilmen, bestand ich darauf, dass wir einen regelrechten Ballettfilm planen, der für mein Verständnis etwas ganz anderes ist als die filmische Dokumentation eine Balletts", schreibt John Neumeier in seinem kurzen Essay zur Produktion. "Ich wollte die Zuschauer in das Ballett hineinversetzen, sie näher an das Geschehen heranführen."
Maximale Nähe zum Darsteller
Das war - Glück im Unglück - gerade dank der Pandemie gut möglich: Das Opernhaus war geschlossen, und die Tänzer und das Filmteam hatten nicht nur viel Zeit, sondern konnten auch die Kameras so flexibel positionieren, wie es in einer Live-Aufführung nie möglich gewesen wäre. "Wir haben uns entschieden, eine Produktion wie eine Art 'Hollywood Movie' zu machen, erzählt Elmar Kruse, Produzent des Films und Geschäftsführer der Firma "C Major Entertainment GmbH", bei der die DVD erschienen ist. "Das heißt, dass wir auf der Bühne step-by-step und in verschiedenen Einstellungen jede einzelne Szene realisiert haben."
Während des dreitägigen Drehs wurde kein einziger Durchlauf des gesamten Werks gemacht. Gearbeitet wurde mit mehreren synchronisierten Kameras. Der Rest entstand beim Schnitt.
"Was uns beim Betrachten eines Films bewegt, ist die Unmittelbarkeit jedes Augenblicks", analysiert John Neumeier. "Wir wollten jeden Funken der Wahrheit, der auf uns zufliegt und uns berührt." Bei einer Live-Aufführung könne man das nur zum Teil einfangen, "abgesehen davon, dass man unterschiedlich agiert, wenn man vor 2000 Zuschauer auftritt oder vor der einen Person, die einen im Film anschaut", so der Choreograf. Schließlich kann man im Theater die Tänzer nicht so heranzoomen, wie es am Bildschirm möglich ist.
Bei Neumeiers Studie zum Mysterium der Liebe lohnt sich eine solche Annäherung auf jeden Fall. Der Erzähler Neumeier grenzt sich von einer romantischen Deutung von Shakespeares Liebesdrama ab und motiviert das Geschehen psychologisch, indem er die ganze Handlung als persönlichen Traum der Figur Hippolyta inszeniert. Die wohlerzogene Adelige träumt sich in die Rolle der Elfenkönigin Titania hinein. Im Gegensatz zu Hippolyta hat Titania den "Mut, aggressiv aufzutreten und ihren erotischen Fantasien nachzugehen. Man sieht, wie sie Oberon (ihrem Gatten, Anmerk. d. Red.) offen widerspricht und physisch bekämpft", so John Neumeier.
Der Pandemie zum Trotz
"Die größte Herausforderung war natürlich, dass wir sicherstellen mussten, dass Corona uns keinen Strich durch die Rechnung macht", erzählt Filmproduzent Elmar Kruse der DW. "Und natürlich war es auch wichtig für uns alle, die Spannung aufrecht zu erhalten." Beide Aufgaben bewältigten das Filmteam und die Darsteller meisterhaft. So ist ein berührender, filigraner Ballettfilm entstanden, der auch ein Stück der jüngsten Zeitgeschichte dokumentiert.
Und auch wenn das Publikum demnächst, ausgehungert nach künstlerischen Live-Erlebnissen, wieder in die Opernhäuser und Theater strömt, wird diese Version des "Sommernachtstraums" sicherlich nichts an ihrem Wert einbüßen. Sie ist zeitlos - wie Shakespeares Meisterwerk selbst.