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PolitikTürkei

Erdogan: Der beleidigte Präsident

9. Februar 2022

Die Zahl der Ermittlungsverfahren in der Türkei wegen Präsidentenbeleidigung ist auf einem absoluten Rekordhoch. Vor Gericht landen zunehmend auch Prominente - wie der Olympia-Schwimmer Derya Büyükuncu.

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Präsidentenbeleidigung gibt es als Tatbestand im türkischen Strafgesetzbuch schon lange vor Erdogan - aber keiner der früheren Staatsoberhäupter machten so häufig davon Gebrauch wie er.
Präsidentenbeleidigung gibt es als Tatbestand im türkischen Strafgesetzbuch schon lange vor Erdogan - aber keines der früheren Staatsoberhäupter machte so häufig davon Gebrauch wie erBild: Adem Altan/Getty Images/AFP

"Er hat Corona und bittet uns um Gebete. Ja, wir beten, keine Sorge. Und ich habe schon angefangen, 20 Töpfe Halva zuzubereiten. Wenn es so weit ist, werde ich es im gesamten Viertel verteilen."

Diese Sätze postete der ehemalige türkische Nationalschwimmer Derya Büyükuncu auf Twitter. Nun wird gegen ihn ermittelt, sogar ein Haftbefehl wurde bereits erlassen - wegen Beleidigung des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Der Tweet von Büyükuncu zum Gesundheitszustand Erdogans sei kriminell, so die zuständige Staatsanwaltschaft am Montag. Der ehemalige Olympia-Schwimmer habe indirekt den Tod Erdogans gewünscht.

Was hat die anatolische Süßspeise Halva mit dem Tod zu tun? Das leckere Halva, das üblicherweise aus Mehl oder Grieß zubereitet wird, mit Butter verfeinert, mit Honig versüßt und mit karamellisierten Walnüssen oder Pinienkernen aufgetischt wird, gehört in Anatolien fast zu jeder Feierlichkeit und eben auch zu Trauerfeiern.

Ist eine Anspielung auf Erdogans Gesundheit eine Präsidentenbeleidigung oder fällt sie unter die Meinungsfreiheit? Nun müssen sich weitere Gerichte mit dieser Frage befassen. Denn seit Samstag, seitdem der türkische Staatspräsident bekanntgab, positiv auf Corona getestet worden zu sein, gingen bei den zuständigen Staatsanwälten mehrere Strafanzeigen ein. Nicht alle wollten für das Wohl Erdogans beten, einige Kritiker zeigten offen Schadenfreude über seine Corona-Erkrankung. Nun sollen sie bestraft werden. Mindestens 36 Ermittlungsverfahren seien eingeleitet worden, so die zuständigen Staatsanwaltschaften in Ankara und Istanbul. Vier Personen sind bereits in Haft. Nach weiteren vier wird gefahndet, darunter auch nach dem Ex-Nationalschwimmer Büyükuncu.

Derya Büyükuncu, ehemaliger türkischer Nationalschwimmer
Derya Büyükuncu - ehemaliger türkischer NationalschwimmerBild: DHA

Der ehemalige türkische Olympia-Schwimmer muss sich nun nicht nur voraussichtlich auf einen Prozess einstellen, umgehend nach seiner Äußerung wurde er zudem aus dem Bund der türkischen Schwimmer suspendiert - und zwar für immer.

Präsidentenbeleidigung: Der berühmte Artikel 299

Nach Angaben des türkischen Justizministeriums wurden allein im Jahr 2020 mehr als 31.000 Ermittlungsverfahren wegen Präsidentenbeleidigung eingeleitet. Somit überschritt die Anzahl der Anklagen seit Erdogans Wahl zum Präsidenten 2014 bis Ende 2020 die Marke von 160.000. Knapp 39.000 Menschen mussten sich seitdem vor Gericht verantworten.

Die Anklagen wegen Präsidentenbeleidigung nennt Prof. Yaman Akdeniz ein "Einschüchterungssystem".
Die Anklagen wegen Präsidentenbeleidigung nennt Prof. Yaman Akdeniz ein "Einschüchterungssystem"Bild: DW/B. Karakas

Nach Angaben von Yaman Akdeniz, Professor für Rechtswissenschaften an der Bilgi Universität, kam es in knapp 13.000 Fällen zu einer Verurteilung. Über 3.600 mutmaßliche Beschuldigte seien zu Haftstrafen verurteilt, weitere 5.500 Menschen seien freigesprochen worden. Zu den restlichen Verfahren gibt es keine Angaben.

Im Interview mit der DW sagt Akdeniz, mehr als 100 Beschuldigte seien jünger als 18 Jahre alt gewesen, als sie verurteilt wurden. 24 seien zur mutmaßlichen Tatzeit sogar zwischen 12 und 14 Jahren alt gewesen.  

Kein Kritiker wird verschont

Präsidentenbeleidigung gibt es schon lange vor Erdogan als Straftatbestand im türkischen Strafgesetzbuch. Aber keines der früheren Staatsoberhäupter machte so häufig davon Gebrauch wie er, stellt die Abgeordnete Gülizar Bicer Karaca von der Oppositionspartei CHP in einem Bericht fest. Zum Vergleich: In den gesamten 21 Amtsjahren seiner drei Vorgänger Gül, Sezer und Demirel habe es nur 1169 Anklagen gegeben.

Türkische Oppositionspolitikerin Gülizar Bicer Karaca
Gülizar Bicer Karaca - türkische Oppositionspolitikerin Bild: Privat

Politiker Künstler, Wissenschaftler, Schüler, Hausfrauen, Straßenverkäufer oder Journalisten - keiner wird vom Beleidigungsvorwurf verschont. Das Problem ist, dass vieles als Beleidigung eingestuft werden kann.

Erst vor zwei Wochen hat die bekannte TV-Journalistin Sedef Kabas diese Erfahrung machen müssen. Nach einer regierungskritischen Äußerung in einer TV-Sendung wurde die 52-Jährige in einer Nacht- und Nebelaktion festgenommen. Kabas kritisierte darin die AKP-Regierung für ihr hartes Vorgehen gegen Oppositionelle und machte sie auch verantwortlich für die Polarisierung der Gesellschaft. "Wenn ein Ochse in einen Palast geht, wird er kein König, sondern der Palast wird zum Stall", zitierte sie ein tscherkessisches Sprichwort, ohne eine Person oder einen Namen zu nennen. Seitdem sitzt sie in Untersuchungshaft wegen mutmaßlicher Beleidung des türkischen Präsidenten. Für Menschenrechtler wie Yaman Akdeniz ist es absurd. Was Kabas vorgeworfen werde, sei absolut aus dem Zusammenhang gerissen. Es spiele schon lange keine Rolle mehr, ob eine Kritik sachbezogen sei.

Nach einer regierungskritischen Äußerung in einer TV-Sendung wurde die bekannte Journalistin Sedef Kabas in einer Nacht- und Nebelaktion festgenommen.
Journalistin Sedef Kabas - wurde nach einer regierungskritischen Äußerung in einer TV-Sendung festgenommenBild: Anka

In einem anderen aktuellen Beispiel erklärt er, wie dieses "Einschüchterungssystem", so nennt er das, funktioniert. 2015 habe das Nachrichtenportal Diken einen Artikel über Erdogan-Karikaturen deutscher Künstler veröffentlicht. Der damalige Chefredakteur sei wegen Präsidentenbeleidigung schon einmal angeklagt und freigesprochen worden. Am Montag erfuhr er aber, dass der Prozess neu aufgerollt werden soll. Die Revisionsrichter sähen darin doch keine Kunst. In den Karikaturen sei Erdogan nicht so gezeigt worden als würde er die Terroristen bekämpfen, im Gegenteil, er sei dargestellt als würde er mit ihnen zusammenarbeiten.

Aus der Sicht von Yaman Akdeniz ist dieses Vorgehen reine Schikane, um die Menschen einzuschüchtern und kluge, politische Kritik verstummen zu lassen. Wer Politik mache, müsse seiner Meinung nach in der Lage sein, auch harte Kritik hinzunehmen. Wer diese nicht dulden könne, habe in der Politik nichts zu suchen, fuhr Akdeniz fort. Und er sieht durch solche zunehmenden Einschüchterungsversuche die Meinungsfreiheit in seinem Land in höchster Gefahr. "Entweder man schweigt oder wird vor Gericht gestellt", lautet sein nüchternes Fazit.   

Auch Deutsche werden angeklagt

Nicht nur türkische Staatsbürger in der Türkei stehen im Fokus der türkischen Justiz. Auch Deutschtürken geraten immer häufiger wegen mutmaßlicher Präsidentenbeleidigung ins Visier der türkischen Sicherheitsbehörden. Entweder werden sie bereits an der Einreise in die Türkei gehindert und mit einer Einreisesperre zurückgeschickt. Oder sie werden in der Türkei wegen Präsidentenbeleidigung festgenommen, mit einer Ausreisesperre belegt und dürfen nicht zurück nach Deutschland.

Der lange Arm der türkischen Justiz erreicht aber auch Deutschland. Der bekannteste Fall war der desdeutschen Entertainers Jan Böhmermann im Jahr 2016. Gegen ihn erstatteten Erdogans Anwälte Anzeige wegen Präsidentenbeleidigung.

Türkei im Abseits: Verliert Erdogan die Kontrolle?

Aber auch viele weitere Fälle veranlassten das Auswärtige Amt diesbezüglich eine offene Warnung auszusprechen. Es heißt in seinen Reisehinweisen: "Hierfür (Präsidentenbeleidigung) wurden bereits mehrjährige Haftstrafen verhängt, teilweise auch erschwerte lebenslange Haft. Auch Ausreisesperren können für Personen mit Lebensmittelpunkt in Deutschland existenzbedrohende Konsequenzen haben".

Noch existenzbedrohender ist die Lage derzeit für den ehemaligen türkischen Olympia-Schwimmer Büyükuncu. Bis zu vier Jahre Haftstrafe drohen ihm. Bei Beleidigung in der Öffentlichkeit wird sie sogar erhöht. Nach der heftigen Kritik des türkischen Sportministers an Büyükuncu dürfte dies auch der Fall sein.

Elmas Topcu | Journalistin
Elmas Topcu Reporterin und Redakteurin mit Blick auf die Türkei und deutsch-türkische Beziehungen@topcuelmas