Erinnerung an Neonazi-Überfall vor 20 Jahren
12. Juni 2020Von den 80.000 Einwohnern der Stadt Dessau in Sachsen-Anhalt sind weniger als 4000 Nichtdeutsche. Doch in den vergangenen 20 Jahren kamen in der Kleinstadt gleich zwei afrikanische Männer gewaltsam zu Tode. Der zweite Fall, der des Asylbewerbers Oury Jalloh aus Sierra Leone, ist der bekanntere, auch weil sein Tod bis heute unaufgeklärt ist. 2005 wurde nach einem Brand in einer Gewahrsamszelle einer Dessauer Polizeiwache seine auf einer Matratze gefesselte, verkohlte Leiche gefunden. Viele, die sich intensiv mit dem Fall auseinandergesetzt haben, sind nach wie vor überzeugt, die Polizei sei für seinen Tod verantwortlich und habe ihre Tat vertuscht.
Wie Alberto Adriano starb, darüber besteht hingegen kein Zweifel. In der Nacht vom 10. auf den 11. Juni 2000 wurde der 39-jährige Mosambikaner im Dessauer Stadtpark von drei Neonazis zusammengeschlagen. Er starb drei Tage später im Koma an den Folgen seiner schweren Kopfverletzungen. Die Männer, die sich noch in derselben Nacht zu der Tat bekannten, zeigten in dem nachfolgenden Prozess keinerlei Reue. Der älteste wurde zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt, die beiden anderen, damals erst 16 Jahre alt, zu jeweils neunjährigen Jugendstrafen.
Opfer war ein "netter, freundlicher Mensch"
Razak Minhel, Geschäftsführer des Multikulturellen Zentrums Dessau, trauert bei der Erinnerung an Adriano immer noch um ihn. "Er war ein sehr ruhiger, netter, freundlicher Mensch. Unsere Kinder haben zusammen gespielt. Dieser Spielort - leider ist es jetzt ein Tatort. Das macht die Erinnerung sehr hart."
Minhel hat am Donnerstag im Stadtpark zusammen mit einigen Lokalpolitikern, Vertretern von NGOs und Reportern an das Verbrechen vor 20 Jahren erinnert. Diesmal war das jährliche Gedenken etwas besser besucht. Einerseits weil es der 20. Jahrestag war, andererseits wegen der weltweiten Antirassismusproteste nach dem Tod des schwarzen Amerikaners George Floyd.
"Man wird auch von Ausländern angepöbelt"
Weitgehend abwesend bei der Gedenkveranstaltung waren weiße Dessauer, das heißt, außer denen, die einen offiziellen Grund hatten, dabei zu sein. Nicht dass sie nicht wüssten, um was es ging. Alle Passanten, die mit uns sprachen, kannten die Namen Adriano und Jalloh. "Machen die darum immer noch so ein Theater!", schimpfte ein Mann auf einer Parkbank, bevor er sich ausgiebig über Deutschlands wirtschaftliche Zukunft ausließ.
Andere reagierten emotionaler. Eine Frau wollte nicht interviewt werden, aber beim Weggehen drehte sie sich noch einmal um und rief traurig: "Es bringt alle diese Gefühle zurück."
Lutz ist Straßenbahnfahrer und machte gerade Pause. Auf der Arbeit werde gelegentlich noch über Jallohs Fall geredet, sagte er. "Er wird immer so ein bisschen hochstilisiert zum Volkshelden, er war ja nicht unbekannt bei der Polizei. Er hat im Stadtpark Drogen vertickt, Frauen belästigt", behauptet er über den Familienvater, der sein Geld im Schlachthof verdiente. Zu der Tat sagt er andererseits: "Ich meine, dass das nicht passieren darf, dass das aufgeklärt werden muss, ist völlig richtig. Bitter ist es für seine Familie, seine Mutter."
Eine Frau, die nicht namentlich genannt werden möchte, sagt: "Leider hat Deutschland ein Problem mit Rechtsextremen, das merkt man auch in Dessau. Aber man wird auch von Ausländern angepöbelt, das muss ich auch sagen. Jetzt, wo das auch in den USA passiert ist, auch mit so einem Schwarzen, erinnert man sich schon dran, dass es auch hier passiert ist. Es war aber ein Einzelfall."
Für Minhel war Adrianos Tod viel mehr als ein Einzelfall, sondern nur ein extremes Beispiel für den Rassismus, den er und viele seiner Bekannten täglich erleben: Frauen mit Kopftuch werden beleidigt und bespuckt, Behördenvertreter werden am Telefon unhöflich und herablassend, wenn sie es mit Menschen mit ausländischem Akzent zu tun haben, Polizisten zwingen Schwarze sogar in der Öffentlichkeit zur Leibesvisitationen. Vor allem Jallohs Fall hat bei den Betroffenen das Vertrauen in die Polizei gründlich zerstört. "Eine Polizeiwache sollte doch der sicherste Ort der Stadt sein, oder nicht?", sagt Minhel.
Der vergessene Rassismus der DDR
Adrianos Tod steht auch für den versteckten Rassismus in der ehemaligen DDR, der tiefe Spaltungen zwischen Alteingesessenen und Neuankömmlingen hinterlassen hat. Adriano war 1988 als einer der letzten sogenannten Vertragsarbeiter aus Mosambik in die DDR geholt worden und arbeitete in einem fleischverarbeitenden Betrieb. Auch mit anderen sozialistischen "Bruderstaaten" hatte die DDR solche Verträge. Tausende, vor allem junge Männer, kamen aus Vietnam, Algerien, Angola, Mosambik und Kuba und arbeiteten in Fabriken und im Kohlebergbau, um einen Mangel an Arbeitskräften auszugleichen. Die Bundesrepublik hatte einen ähnlich hohen Bedarf an billigen Arbeitskräften und holte vor allem Türken als "Gastarbeiter" ins Land.
Strikte Trennung
In einem Artikel für die Bundeszentrale für politische Bildung von 2016 hat die Historikerin Ann-Judith Rabenschlag beschrieben, wie das gesamte System mit den Vertragsarbeitern staatlich organisiert und reglementiert war. Die ausländischen Arbeiter hatten auf kaum etwas einen Einfluss. Sie wohnten in eigenen Unterkünften mit bis zu vier Personen in einem Zimmer, getrennt von der deutschen Bevölkerung. Männer und Frauen waren strikt getrennt, sogar Ehepaare hatten keinen Anspruch auf ein gemeinsames Zimmer.
Ihr Aufenthalt war zeitlich begrenzt. Er wurde automatisch beendet, sobald das Arbeitsverhältnis endete, normalerweise nach fünf Jahren. Auch wenn es Bemühungen gab, die Neuankömmlinge am Arbeitsplatz zu integrieren, zum Beispiel durch verpflichtende Deutschkurse, schreibt Rabenschlag, dass die Unterbringung von vorwiegend jungen Männern auf engem Raum mitunter zu Nachbarschaftskonflikten mit der alteingesessenen Bevölkerung führte. In solchen Fällen seien Einheimische und Vertragsarbeiter manchmal noch stärker getrennt wurden.
Heute noch schlimmer?
Die Amadeu-Antonio-Stiftung setzt sich gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus ein. Sie trägt den Namen eines Angolaners, der ebenfalls als Vertragsarbeiter in die DDR kam und 1990 von Neonazis getötet wurde. Nach Angaben der Stiftung wurden zwischen der Wiedervereinigung 1990 und dem Jahr 2000, als Adriano starb, mehr als 100 Menschen durch rechtsextreme Gewalt getötet.
Doch Adrianos Tod löste eine landesweite Reaktion aus: In Dessau fanden Proteste gegen Rechtsextremismus statt, der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder erschien persönlich, für Adrianos Frau und seine drei Kinder wurde Geld gesammelt, und die Bundesregierung finanzierte neue Initiativen gegen Rechtsextremismus.
Hans Goldenbaum, Leiter der Gewalt- und Radikalisierungsprävention des Multikulturellen Zentrums Dessau, glaubt, all das habe wenig verändert: "Es gab sicherlich durch diese Welle mehr Möglichkeiten für die Zivilgesellschaft, Sachen zu erkämpfen, und die sind erkämpft worden, zum Beispiel die mobile Opferberatung." Trotzdem, obwohl der Fall so viel Aufmerksamkeit erhielt, seien die Menschen schnell wieder alleingelassen worden. "Es gab weiter Einschränkung des Asylgesetzes, es gab weiter rechte Gewalt." Die Situation sei für Asylsuchende seitdem sogar noch bedrohlicher geworden, glaubt Goldenbaum, weil die extreme Rechte inzwischen politisch akzeptiert werde, nämlich in Form der Partei Alternative für Deutschland, AfD, die 2017 in den Bundestag einzog und dort jetzt stärkste Oppositionspartei ist.