Der Fall Oury Jalloh geht weiter
31. Oktober 2019Ein Gutachten im Fall Oury Jalloh wirft neue Fragen auf: Der 36-jährige Asylbewerber aus Sierra Leone, der bei einem Brand in seiner Zelle auf der Polizeistation in Dessau im Januar 2005 ums Leben kam, könnte diesem forensischen Gutachten zufolge vor seinem Tod schwer misshandelt worden sein. Ihm sollen demnach das Nasenbein, die Nasenscheidewand, das Schädeldach und eine Rippe gebrochen worden sein. "Es ist davon auszugehen, dass diese Veränderungen vor dem Todeseintritt entstanden sind", heißt es weiter. Die "Initiative in Gedenken an Oury Jalloh" (IGOJ) hatte das Gutachten bei der Universitätsklinik Frankfurt am Main in Auftrag gegeben.
Seit bald 15 Jahren beschäftigen sich sowohl die Justiz, die Politik als auch die Zivilgesellschaft mit dem Fall Oury Jalloh. Denn die Todesumstände in der Polizeidienststelle Dessau in der Wolfgangstraße 25 sind bis heute nicht vollständig aufgeklärt. Oury Jalloh war in Gewahrsam genommen worden, weil er nach Polizeiangaben unter Alkohol- und Drogeneinfluss mehrere Frauen belästigte. Oury Jalloh - so sagten die Polizisten aus - soll sich geweigert haben, seine Papiere vorzuzeigen und leistete Widerstand bei seiner Festnahme. Daraufhin wurde er in die Zelle der Wache in Dessau gesperrt und an Händen und Füßen auf einer feuerfesten Matratze fixiert. Als am 7. Januar 2005 gegen 12:30 Uhr mittags das Feuer in der Zelle von Oury Jelloh ausbrach, war er nach wenigen Minuten tot. Mehrmals wurde Feueralarm ausgelöst, doch zunächst schaute keiner nach Jalloh. Die Polizisten fanden seinen verkohlten Körper, Hände und Füße waren gefesselt. Zwei Beamte wurden angeklagt. Das Landgericht Magdeburg verurteilte den Dienststellenleiter 2012 wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe. Er hatte demnach nicht dafür gesorgt, dass Jalloh ausreichend beaufsichtigt wurde.
Fragwürdige Umstände
Das Staatsanwaltschaft Halle ging 2017 davon aus, dass Jalloh mit fixierten Armen und Beinen seine feuerfeste Matratze aufriss und mit einem Feuerzeug, das im Festnahmeprotokoll nicht auftaucht, den entzündlichen Matratzenkern anzündete. Er habe dann seinen Kopf über die Flamme gehalten und sei in der Folge an einem sogenannten inhalativen Hitzeschock gestorben. Das Feuerzeug soll er vorher unter seinen Körper geschoben haben, sodass man es auf den wenigen Film- und Videoaufnahmen, die es vom Tatort gibt, nicht sieht. Mehrere Anhaltspunkte, die gegen eine Selbsttötung sprechen, waren im Laufe der Prozesse zutage getreten.
Experten verweisen darauf, dass bei der Polizei Dessau bereits 1997 und 2002 Menschen in unmittelbarem Zusammenhang mit Polizeigewahrsam starben. Ende 1997 wurde Hans-Jürgen Rose nach einer Alkoholfahrt in Gewahrsam genommen. Er starb kurze Zeit, nachdem er wieder freigelassen wurde, an inneren Verletzungen - noch in der Nähe des Reviers. 2002 nahmen Dessauer Polizisten den obdachlosen Mario Bichtemann fest. Er starb an einem Schädelbasisbruch und wurde tot in der Zelle aufgefunden. Es wurde wegen des Verdachts auf fahrlässige Tötung ermittelt - allerdings ohne Erfolg. Beide Fälle führen Kritiker als Indizien dafür an, dass es schon vor Jallohs Tod ein Problem mit Gewalt bei der örtlichen Polizei gegeben haben könnte.
Zweifel vom Oberstaatsanwalt
Auch der viele Jahre zuständige Oberstaatsanwalt Folker Bittmann von der Staatsanwaltschaft in Dessau hielt eine Vertuschungstat durch Polizisten für möglich. Das geht aus einem Aktenvermerk aus dem April 2017 hervor. Bittmann wurde der Fall kurz darauf entzogen. "Die Ermittlungen haben sich von Anfang an als unzureichend erwiesen", kritisiert Philipp Krüger, Experte für Polizei und Menschenrechte bei Amnesty International (AI) in Deutschland.
Nach langem juristischen Hin und Her stellte die Staatsanwaltschaft Halle am 12. Oktober 2017 das Verfahren ein. Es gebe keine ausreichenden Anhaltspunkte für eine Beteiligung Dritter beim Ausbruch des Feuers, teilte sie mit. Auch das Oberlandesgericht Naumburg wies am 23. Oktober 2019 die Beschwerde eines Verwandten Oury Jallohs zurück, weiter zu ermitteln.
Sonderermittler für den Fall Oury Jalloh
Der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh zufolge soll das neue Gutachten nun klare Hinweise auf eine Misshandlung Jallohs kurz vor seinem Tod geben: Der Polizeiarzt Andreas Blodau Jalloh untersuchte Jalloh noch kurz vor seinem Tod am Morgen, gegen 9.30 Uhr, und dokumentierte keine Verletzungen. Entsprechend müssen die Verletzungen, die jetzt das forensische Gutachten attestiert, zwischen der Untersuchung durch Blodau und dem Ausbruch des Feuers gegen 12:30 Uhr entstanden sein - so sieht es die IGOJ in ihrer Erklärung. Bislang waren die zuvor bekannten Verletzungen, wie der Bruch des Nasenbeins, als postmortale Verletzungen erklärt worden. Die Frankfurter Gutachter fanden aber Hinweise, dass Jalloh zu Lebzeiten verletzt worden sein muss. Das Feuer hätte also der Argumentation der IGOJ zufolge dazu dienen können, irreguläre Polizeigewalt zu vertuschen. Dirk Peglow, stellvertretender Bundesvorsitzender des Bundes deutscher Kriminalbeamter (BdK), äußert sich nicht zu diesem Fall. Generell spricht er sich aber dafür aus, dass Vorwürfe dieser Art "immer aufgeklärt werden sollten".
Doch im Fall Oury Jallohs ist das sehr unwahrscheinlich. "Ein Teil der Polizisten ist für ein zweites Verfahren gesperrt", sagt der Grüne Jerzy Montag in einem Interview mit der Tageszeitung taz. Montag ist seit 2018 einer von zwei Sonderermittlern im Fall Oury Jalloh. Er und Ex-Generalstaatsanwalt Manfred Nötzel mussten das Naumburger Urteil abwarten, bevor sie ihre Arbeit für den Rechtsausschuss des sachsen-anhaltischen Landtags aufnehmen konnten. "Unser Job ist die Überprüfung des Handels der Exekutive. Wir schauen, ob gegen Vorschriften verstoßen wurde oder sonstige Fehler begangen wurden."
Verhaltene Reaktion aus Sachsen-Anhalt
Die Politik in Sachsen-Anhalt reagiert seit Bekanntwerden des neuen Gutachtens verhalten. "Es ist nicht Aufgabe des Justizministeriums oder der Landesregierung, Gutachten in gerichtlichen Verfahren einzuschätzen oder zu berücksichtigen", schreibt ein Sprecher von Justizministerin Anne-Marie Keding (CDU) auf Anfrage der taz.
Amnesty International hat - auch basierend auf den Erfahrungen im Fall Oury Jalloh - bereits 2010 einen Forderungskatalog an die Politik herausgegeben. "Wir fordern eine unabhängige Institution, die Fälle von möglicher rechtswidriger Polizeigewalt in Deutschland untersucht", sagt Krüger. Außerdem fordert AI Videoaufnahmen im Gewahrsamsbereich der Polizeistationen. In vielen Fällen gebe es bereits Kameras in den Räumen, sagt Peglow vom BdK. Allerdings spiele bei diesem Thema auch das Persönlichkeitsrecht der Menschen in Gewahrsam eine Rolle. Eine unabhängige Institution, die diese Fälle untersucht, lehnt er ab. Es gebe Polizeidienststellen für interne Ermittlungen bei solchen Fällen. Vielmehr könne sich der BdK eine parlamentarische Beschwerdeinstanz vorstellen analog zum Wehrbeauftragten für die Bundeswehr: "Das würden wir gerne versuchen."
Wie es in dem Fall Oury Jalloh weitergeht, ist noch nicht abzusehen. Rechtsanwälte der Hinterbliebenen Jallohs hatten bereits vor Monaten weitere rechtliche Schritte ins Spiel gebracht: Denkbar sei eine Verfassungsbeschwerde, notfalls werde man bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen.