Neues Camp - "Es wird auch hier brennen"
12. September 2020Ungläubig starrt Patrique durch den Maschendraht. In ein paar hundert Meter Entfernung, abgetrennt durch mehrere Stacheldraht-Umzäunungen, errichtet das UN-Flüchtlingswerk UNHCR Zelte. Schnelle Hilfe hatte die griechische Regierung am Dienstagabend versprochen, nachdem ein gewaltiges Feuer das berüchtigte Flüchtlingslager Moria auf der Insel Lesbos dem Erdboden gleich gemacht hatte. Angekommen ist von dieser Hilfe bisher kaum etwas. "Die wenigen Sachen, die ich hatte, habe ich in den Flammen verloren," berichtet Patrique. Seit 11 Monaten ist der 42-jährige Angolaner auf Lesbos. Für ihn fast ein Jahr in der Hölle.
"Die Regierung muss uns doch jetzt helfen. Sie müssen uns nach Athen bringen, nach Deutschland oder ein anderes Land in Europa." Das Zeltlager, das hier vor seinen Augen entsteht, ist für Patrique sicherlich keine Lösung: "In zwei Wochen wird dasselbe passieren. Sie werden wieder Feuer legen." In seinem Heimatland habe man seine Familie verfolgt und umgebracht, berichtet er. "Sie würden auch mich umbringen. Deswegen bin ich hier. Ich brauche Schutz." In Griechenland aber habe er diesen nicht gefunden. "Ich habe hier keine Zukunft."
Ohne Obdach und Nahrung
Nur einen Steinwurf entfernt stehen gepanzerte blaue Busse der Polizei. Dahinter, mitten auf der Hauptstraße in Richtung der Inselhauptstadt Mytilini, säumen tausende von obdachlosen Menschen den Wegrand. Familien, Mütter mit kleinen Kindern, sogar Neugeborenen suchen Schatten. Die Mittagssonne lässt die Temperaturen auf über 30 Grad steigen. Ein paar haben Zelte, die sie von NGOs bekommen haben. Andere haben aus Bambus und großen Blättern kleine Hütten errichtet. Die Flucht und das oft jahrelange Dasein im Lager in Moria haben sie zu Improvisationskünstlern gemacht. Sie sind es gewohnt, trotz der Milliardenzahlungen aus Brüssel an die griechische Regierung, ohne Hilfe auszukommen.
Zwei Jungen spielen Volleyball. Aus einem defekten Schlauch schießt Wasser. Eine Schlange von Menschen wartet davor, um leere Plastikflaschen aufzufüllen. Frauen haben Blätterzweige zu Besen zusammengebunden und fegen den staubigen Boden unter ihren provisorischen Dächern. Toiletten gibt es keine. Die Menschen müssen ihre Notdurft im Freien verrichten. Inzwischen haben die Behörden und freiwillige Helfer zumindest Wasser verteilt. Aber es fehlt an Essen. "Ich habe heute nur einen einzigen Keks gegessen," berichtet ein junger Afghane verzweifelt.
"Das Militär kommt um 14.30 Uhr hierhin und bringt Essen," berichtet eine freiwillige Helferin am Vorabend, als sie auf dem Parkplatz eines Discounters Mahlzeiten verteilt, die sie und andere selbst zubereitet haben."Es gibt nicht genug Nahrung für alle. Die Essensausgabe ist unorganisiert. Es reicht auch nicht, nur einmal am Tag zu essen. Sie (Anm. der Redaktion: die griechischen Behörden) müssen endlich etwas tun und sich an die Arbeit machen."
Hass gegen Hilfsorganisationen
Auch für Hilfsorganisationen ist die Lage heikel. Seit den Auseinandersetzungen im März diesen Jahres, als die Gewalt von Einheimischen gegen Mitarbeiter von NGOs und Journalisten außer Kontrolle geriet, haben viele die Insel verlassen. Selbst für Ärzte ohne Grenzen ist der Druck erheblich gestiegen. Kürzlich hatten die örtlichen Behörden eine COVID-Klinik für Flüchtlinge geschlossen, die die Organisation im Kampf gegen die Pandemie in Lagernähe errichtet hatte. Außerdem wurde eine Strafe von 35.000 Euro verhängt. Der Grund: Die Klinik befände sich in einem Gewerbegebiet.
Nach dem Feuer sei die Situation besonders kritisch, erklärt Faris Al Jawad von Ärzte ohne Grenzen. "Gerade jetzt brauchen uns die Menschen. Sie hängen von uns ab." Aus Sorge vor Übergriffen durch Einheimische aber sei man besonders vorsichtig. "Jetzt geht es darum, herauszufinden, wie die Problemlage ist. Die Menschen sind überall verstreut. Unsere Mitarbeiter gehen herum, sprechen sie an und erklären ihnen, dass die Klinik geöffnet ist." Doch auch jetzt sei der Kontakt mit einigen Einheimischen schwierig: "Noch vor fünf Minuten ist hinter unserer Klinik jemand mit dem Motorrad hergefahren und hat uns angeschrien."
Deutschland soll Flüchtlinge aufnehmen
Erik Marquardt, Grünenabgeordneter im Europaparlament, hat für solcherlei Hasstiraden kein Verständnis. Doch er weiß: Europa bürdet den Menschen auf Lesbos Unzumutbares auf. "Ich erinnere mich noch gut an 2015, als es hier eine breite Hilfsbereitschaft der Bevölkerung gab. Da hat man gemerkt, dass man Strukturen braucht, an die man vorher nicht gedacht hat, um sich auf solche Situationen vorzubereiten." Jetzt, viele Reisen nach Lesbos später, sei die Situation anders: "Die EU hat es nicht geschafft, ein System zu bauen, das Unterkünfte, Schuldbildung, Essensversorgung, aber auch Brandschutz gewährleistet." Nur so sei möglich gewesen, dass Einzelne ein Feuer legen, und das größte Flüchtlingscamp Europas vollständig abbrennt." Für ihn ein Vollversagen der Politik. "Wir haben die Menschen zu Opfern an den Außengrenzen gemacht."
Für ihn geht es jetzt nach der Brandkatastrophe von Moria darum, strukturell und nachhaltig zu helfen. Mit einem neuen Lager auf Lesbos aber würde man dasselbe Problem wieder aufbauen. "Wir müssen jetzt erst einmal etwas Zeit gewinnen, damit die Menschen nicht mehr leiden. In dieser Zeit müssen politische Lösungen gefunden werden, aber auf Basis einer Analyse, die zeigt, dass überfüllte Lager an den Außengrenzen immer wieder in einer Katastrophe münden." Sein Lösungsvorschlag zur unmittelbaren Hilfe treibt in Corona-Zeiten unbenutzt auf dem Meer: "Es gibt viele Kreuzfahrtschiffe, die seit Monaten leer stehen, die man mieten und ein Hygienekonzept entwicklen könnte. So hätte man schon morgen hier mehrere tausend Zimmer mit Quarantänemöglichkeiten."
In dieser Zeit müssten sich die EU-Staaten endlich ihrer Verantwortung bewusst werden, auch die Bundesrepublik, die derzeit die EU-Ratspräsidentschaft innehat: "Wir können nicht eine europäische Lösung suchen und dabei das europäische Problem beibehalten. Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag vereinbart, dass man 180.000 bis 200.000 Menschen im Jahr aufnimmt. Seit zwei Jahren scheitert sie daran, ihre Verpflichtung einzulösen. Im letzten Jahr gab es 139.000 Asyl-Erstanträge, in diesem Jahr sogar weniger. Selbst wenn man alle 27.000 Flüchtlinge aufnimmt, die derzeit auf den griechischen Inseln sind, würde man den Korridor der Aufnahmekapazität, die die große Koalition sich selbst gesetzt hat, nicht erreichen."