EU-Ausblick 2024: Fünf Herausforderungen warten auf Europa
3. Januar 2024Herausforderung 1: Russlands Krieg
Die 27 Mitgliedsstaaten haben wieder und wieder versprochen, sie würden der Ukraine im Abwehrkampf gegen Russland so lange helfen, wie es nötig sei, weil ein Sieg Russlands Europas Sicherheit insgesamt bedrohe. Wird die Europäische Union diesen Schwur im kommenden Jahr noch einhalten?
Von Kriegsmüdigkeit und bröckelnder Solidarität ist in Brüssel derzeit viel die Rede. Die EU hat große Mühe, ihre finanziellen Hilfen für die Ukraine einstimmig zu beschließen. Bisher überlässt die EU der Ukraine die Entscheidung, ob sie mit Russland verhandelt oder nicht. Diese Strategie dürfte 2024 hinterfragt werden.
"Unser Ziel muss ein gerechter und dauerhafter Frieden bleiben, nicht ein weiterer eingefrorener Konflikt", meint EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. "Der beste Weg, der Ukraine Stabilität und Wohlstand zu verschaffen, ist die Mitgliedschaft der Europäischen Union. Für eine wieder erstarkende Ukraine ist Europa die Antwort."
Herausforderung 2: EU-Erweiterung
Damit spricht Ursula von der Leyen einen Schritt an, der vielen Mitgliedsstaaten insgeheim zu schnell und zu weit geht. Mit der Ukraine und der Republik Moldau sollen 2024 Beitrittsgespräche beginnen. Mit einem Beitritt der kriegsgebeutelten Ukraine wären enorme Kosten für die alte EU verbunden. Deshalb bekommen auch große politische Freunde der Ukraine kalte Füße, etwa Polen oder die baltischen Staaten. Sie könnten von Netto-Empfängern zu Netto-Zahlern im gemeinsamen Haushalt werden. EU-Beamte versuchen zu beruhigen: Verhandlungen würden zwar beginnen, aber der Beitritt wäre noch Jahre entfernt, wenn nicht gar Jahrzehnte.
Die Staaten auf dem westlichen Balkan wollen allesamt der EU beitreten und stehen zum Teil seit 20 Jahren in der Warteschlange. Sie beobachten mit Argwohn die rekordverdächtige Geschwindigkeit, mit der die Beitrittsbemühungen der Ukraine und Moldaus vorangebracht werden.
Für Montenegro, Albanien und Nordmazedonien soll es konkrete Beitrittsdaten geben, auch um russischen und chinesischen Einfluss auf dem Balkan einzudämmen. Für Serbien und Kosovo sind die Aussichten eher bescheiden, weil ethnische Konflikte jeden Fortschritt lähmen. Bosnien-Herzegowina kämpft sich nur mühsam aus dem Status eines dysfunktionalen Staates heraus. Hier ist der größte Bremsklotz der von Russland befeuerte Konflikt der bosnischen Serben mit anderen Volksgruppen.
Herausforderung 3: Reformen der EU selbst
Vor einer Aufnahme neuer Mitgliedsstaaten müssen die Entscheidungsprozesse und die Finanzierung der EU gründlich reformiert werden. "Aufnahmefähig" sei nur ein souveränes, wirtschaftlich starkes Europa, argumentiert seit langem der französische Präsident Emmanuel Macron. Auch die deutsche Bundesregierung legte Reformschläge auf den Tisch, die mehr Entscheidungen per Mehrheit statt Einstimmigkeit vorsehen.
Ob 2024 davon etwas umgesetzt wird, sei unklar, so EU-Diplomaten. Denn die Einstimmigkeit abzuschaffen, erfordert zuvor einen einstimmigen Beschluss. In den vergangenen Jahren hat es die EU aber nicht geschafft, die beiden notorischen Nein-Sager zur Räson zu bringen - das sind Ungarn und Polen, die ihr Veto skrupellos einsetzen. Die Verfahren wegen mangelnder Rechtsstaatlichkeit verliefen im Sande. 2024 wird der EU-Gegner Viktor Orban in Ungarn weiter fest im Sattel sitzen. In Polen gibt es dagegen Hoffnung. Dort übernimmt mit dem ehemaligen EU-Ratspräsidenten Donald Tusk ein Pro-Europäer das Ruder.
2004, vor nunmehr 20 Jahren, waren gleichzeitig acht Staaten aus Mittel- und Osteuropa sowie Malta und Zypern der EU beigetreten. Danach ließ die EU sich etwas Zeit mit dem Vertrag von Lissabon, der 2009 in Kraft trat und mehrere Abkommen beinhaltet beziehungsweise betrifft, die bis heute die Geschäftsordnung des Staatenbundes sind. Müssen diese Verträge angepasst werden? Diese Diskussion wird 2024 Fahrt aufnehmen.
Herausforderung 4: Donald Trump
Sollte der radikale Republikaner Donald Trump trotz laufender Gerichtsverfahren wieder als US-Präsident ins Weiße Haus in Washington einziehen, würde für die EU und auch für den europäischen Teil des Militärbündnisses NATO eine harte Zeit anbrechen. Der wichtigste Verbündete bei der Unterstützung der Ukraine, bei der Abschreckung Russlands und in Handelsfragen könnte wegbrechen. Um den unberechenbaren Trump bei Laune zu halten, könnte die EU anbieten, die Militärhilfe für die Ukraine weitgehend selbst zu finanzieren.
Die deutsch-amerikanische Handelskammer rechnet damit, dass Donald Trump Europa mit Strafzöllen überziehen würde. Im Gegenzug müsste die EU ihrerseits Zölle und Abgaben erhöhen. Handelsvolumen und Wirtschaftswachstum dürften sinken.
Würde Trump die Beziehungen zu China, dem wichtigsten Handelspartner vieler EU-Staaten, noch schlechter machen, als sie schon sind? Die Welt würde dann noch instabiler, als sie ohnehin schon ist - ein Alptraum für viele außenpolitische Experten in Brüssel. Nur einer freut sich: Viktor Orban. Der ungarische Premier sieht in Trump einen Verbündeten in seinem Kampf für eine "illiberale" Demokratie.
Herausforderung 5: Europawahlen
Anfang Juni bestimmen rund 400 Millionen Wahlberechtigte das Europäische Parlament. Besser gesagt: Sie könnten es, aber nur die Hälfte hat beim vorherigen Mal tatsächlich abgestimmt, also rund 200 Millionen Menschen. Erwartet wird ein erneuter Sieg der christdemokratischen Parteien, aber auch ein Anwachsen der rechtsradikalen und rechtspopulistischen Fraktionen.
Wichtigstes Thema für die Wähler ist laut der Meinungsumfrage Eurobarometer ihre eigene wirtschaftliche Situation und ihr Lebensstandard. Ukraine, Migration, Reformen und EU-Erweiterung sind demnach eher nachrangig bei der Wahlentscheidung.
Voraussichtlich wird die deutsche Politikerin Ursula von der Leyen Präsidentin der EU-Kommission bleiben. Dazu muss sie das EU-Parlament im Amt bestätigen. Vorgeschlagen müssen sie aber die 27 Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten.
Trotz Kritik: Viele Menschen sehen die Zukunft der EU positiv
Neben den fünf wichtigsten Herausforderungen dürften im kommenden Jahr noch einige weitere Aufgaben die EU beschäftigen. So soll eine umkämpfte Reform der Asylverfahren, der sogenannte Migrationspakt, Gesetzeskraft erhalten. Die EU braucht neue Regeln für die Verschuldung der Staatshaushalte ihrer Mitgliedsstaaten. Ein Gesetz zur Regulierung von Künstlicher Intelligenz ist überfällig. Mehr Investitionen in grüne Klimatechnologie müssen auf den Weg gebracht werden. Und die Suche nach Geld geht weiter. Die EU-Kommission will 66 Milliarden Euro zusätzlich zum 1,1 Billionen-Budget über sieben Jahre. Die EU-Mitgliedsstaaten sträuben sich jedoch - Potenzial für tiefe Konflikte zwischen nördlichen Geberstaaten sowie östlichen und südlichen Empfängerländern in der Union.
Das alles lässt die EU-Bürgerinnen und EU-Bürger relativ kalt. Sie beklagen zwar in der Umfrage Eurobarometer, dass sie zu wenig Einfluss auf Entscheidungen in Brüssel hätten, aber trotzdem sehen sie die Aussichten für die Zukunft der EU eher optimistisch. 60 Prozent der Befragten sagen das im EU-Durchschnitt. Ausreißer ist überraschenderweise EU-Gründungsmitglied Frankreich. Hier liegt die Optimismus-Rate unter 50 Prozent, der niedrigste Wert aller EU-Staaten. Spitzenreiter ist Dänemark mit 86 Prozent. Und in Deutschland: 58 Prozent der Befragten sehen die Entwicklung der EU im Jahr 2024 eher positiv.