EU-Optimisten riechen den Kaffeeduft
29. Juni 2016Die Briten wollen raus aus Europa. Nach tagelanger Schockstarre fangen die Übriggebliebenen jetzt an zu überlegen, wie es mit ihnen selbst weitergehen soll. Zwei Stimmungen prallen aufeinander. Die einen sind immer noch von Selbstzweifeln geplagt. Belgiens Ministerpräsident Charles Michel stellte nachdenklich fest, Europa werde vor allem als "Technokratie" wahrgenommen. Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach von einer "sehr ernsten Situation", Frankreichs Präsident François Hollande von europäischen "Unzulänglichkeiten", die es zu überwinden gelte. Andere, wie die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaite, sind optimistischer, sehen neue Chancen: "Wir alle müssen aufwachen und den Kaffeeduft riechen", sagte sie gutgelaunt in Brüssel.
Doch auch unter den Kaffeeduftriechern gibt es zwei grundsätzlich verschiedene, zum Teil sogar gegensätzliche Vorstellungen. Manche sehen die Gunst der Stunde, dass die ewig nörgelnden, bremsenden Briten bald weg sind. Sie wollen, dass Europa nun politisch und wirtschaftlich noch enger zusammenrückt. Das sind vor allem die Gründungsmitglieder im Westen Europas.
Frankreich will die Gunst der Stunde nutzen
Die deutsche und die französische Regierung dürften sich hierbei auch von einer Umfrage von infratest-dimap und TNS-Sofres in beiden Ländern bestätigt sehen. Danach wollen 83 Prozent der befragten Deutschen und 77 Prozent der Franzosen eine engere europäische Zusammenarbeit. 70 Prozent in beiden Ländern wollen demnach sogar eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik. Allerdings haben vor allem konservative deutsche Politiker immer wieder die Befürchtung geäußert, Paris versuche, über das Vehikel einer engeren Zusammenarbeit die solidere deutsche Haushaltspolitik aufzuweichen. Frankreich überschreitet seit Jahren die Dreiprozent-Defizithürde, wie sie der EU-Stabilitätspakt vorschreibt.
Hollande forderte als Konsequenz aus dem Brexit-Votum tatsächlich eine stärkere "Vergemeinschaftung" in verschiedenen Bereichen, unter anderem bei der Verteidigung. Besonders die Briten haben sich immer gegen mehr europäische Zusammenarbeit in Militärfragen mit dem Argument gewandt, die NATO reiche dafür aus. Der erwartete Austritt der Briten scheint nun Paris neu zu beflügeln.
Verärgerung über "kleine Clubs"
Andere, vor allem die Staaten im Osten Europas, betonen jetzt erst recht das Nationale. Sie glauben, man solle auf die Bevölkerung hören und zum Beispiel die Flüchtlingskrise nach dem Willen der Bevölkerung lösen, sprich: sich gegenüber Migranten abschotten. Sie stören sich auch daran, dass vor allem die großen Altmitglieder die Richtung vorgeben wollen. Konkreter Anlass für die Kritik ist, dass sich kurz vor dem Brüsseler Gipfel Bundeskanzlerin Merkel, Frankreichs Präsident Hollande und Italiens Ministerpräsident Renzi in Berlin getroffen hatten, um über die Folgen des bevorstehenden britischen Austritts zu beraten. Xavier Bettel, der Ministerpräsident des kleinen Luxemburg, zeigte sich "nicht begeistert", wenn es "so kleine Clubs" gebe, "wo verschiedene Leute zusammen reden". Für ihn gehören alle Themen ins Plenum.
"Wer will uns stoppen?", fragte die Optimistin Grybauskaite aus Litauen rhetorisch. Doch in welche Richtung? Laut Merkel "geht es nicht um mehr oder weniger Europa", sondern um "bessere Resultate" für die Bürger. Auch neue Vertragsänderungen seien "jetzt nicht das Gebot der Stunde", man könne "nicht alle zwei Jahre die Dinge neu machen". Es gelte, den Bürgern Wohlstand und Sicherheit zu geben. "Wir müssen die Menschen überzeugen."
Das neue Mantra "europäischer Mehrwert"
Bei so unterschiedlichen Vorstellungen drängt sich der Eindruck auf, dass es gleiche Veränderungen für alle 27 Staaten nicht geben kann. Der belgische Ministerpräsident Michel zieht daraus die Konsequenz, dass es auf ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten hinauslaufen müsste: "Eine Gruppe von Ländern, die schneller vorangehen will, muss die Möglichkeit haben, dies zu tun, ohne von anderen gehindert zu werden." Wenn man vergeblich auf alle warten würde, entstünde sonst beim Bürger der Eindruck des Stillstands. In jedem Fall, so Michel, müsse Europa zeigen, "dass es unseren Mitbürgern einen spürbaren Mehrwert bringt".
"Europäischer Mehrwert", das ist jetzt das Mantra. Die Staats- und Regierungschefs haben erkannt, wie unzufrieden viele Bürger mit der Europäischen Union sind. Alle sagen, es könne nicht so weitergehen wie bisher. Nur wie man die Dinge anders machen will, darüber gehen die Meinungen auseinander. Im September geht es weiter mit den Zukunftsberatungen. Ratspräsident Donald Tusk hat zu einem Gipfel ins slowakische Bratislava eingeladen. Die Slowakei übernimmt im Juli turnusgemäß die Ratspräsidentschaft. Bis dahin hofft man, dass sich die Briten über ihren Austrittsweg klar geworden sind.