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Fall Oury Jalloh: Neue Vorwürfe gegen Behörden

Ben Knight
4. November 2021

Vor knapp 17 Jahren verbrannte der Asylbewerber Oury Jalloh in einer Dessauer Polizeizelle. Eine neue Rekonstruktion nährt die Zweifel an der offiziellen Version.

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Berlin: PK zu neuem Brandgutachten zum Tod von Oury Jalloh; man sieht ein Podium mit mehreren Personen und im Hintergrund an die Wand geworfene Bilder aus der Rekonstruktion des tödlichen Feuers
Der Tod Jallohs wurde detailgetreu nachgestellt. Die Ergebnisse werfen Fragen zur Rolle der Justiz aufBild: Ben Knight/DW

Was geschah in der Nacht vom 7. Januar 2005 wirklich in Dessau? Schon lange gibt es Zweifel an der offiziellen Version über den Feuertod des Asylbewerbers Oury Jalloh in einer Polizeizelle. Eine neue Rekonstruktion der Todesnacht gibt diesen Zweifeln neue Nahrung: Demnach müssten deutsche Polizeibeamte den 36-jährigen Mann aus Sierra Leone in seiner Zelle mit Benzin oder einer anderen brennbaren Flüssigkeit übergossen haben. 

Durchgeführt hatte die Nachstellung der britische Forensiker und Brandschutzexperte Iain Peck im Auftrag der "Initiative in Gedenken an Oury Jalloh". Seine Ergebnisse stellte Peck am Mittwoch auf einer Pressekonferenz in Berlin vor – inklusive einer Video-Dokumentation des Experiments.

Für viele Aktivisten ist der Tod Jallohs und der Umgang der Behörden damit einer der ungeheuerlichsten Fälle von Versagen bei der Bekämpfung rassistischer Polizeigewalt in Deutschland. Wie emotional aufgeladen das Thema ist, wurde bei der Pressekonferenz deutlich: Zu Beginn wollte Jallohs Bruder Saliou sprechen. Aber er musste seine Rede abbrechen, weil er in Tränen ausbrach. Noch bevor das Video gezeigt wurde, verließ er die Veranstaltung.   

Nachgebaute Todeszelle

Die Rekonstruktion ist die bisher genaueste Darstellung der Ereignisse in Zelle 5 des Dessauer Polizeireviers vor knapp 17 Jahren. Für das Gutachten bauten Peck und die Initiative Jallohs Zelle im Keller des Polizeireviers originalgetreu nach. Einziger Unterschied: Für die Videodokumentation wurde die vierte Wand der ansonsten komplett gefliesten Zelle aus feuerfestem Glas errichtet.

Peck machte einen Bewegungstest mit einem jungen Mann von ähnlicher Größe und Statur wie Jalloh, um zu sehen, wie weit er seine gefesselten Arme und Beine bewegen konnte. Für die Nachstellung des tödlichen Feuers verwendete der britische Brandexperte eine Puppe; die bestand aus einem Plastikskelett, das mit Schweinefleisch, Innereien und Schweinehaut bedeckt war.

1.06.2020, Sachsen-Anhalt, Dessau-Roßlau: Teilnehmende einer linken Demonstration stehen mit Transparenten vor dem Polizeirevier von Dessau. Sie erinnern damit an Oury Jalloh aus Sierra Leone, der am 07.01.2005 in dieser Polizeidienststelle ums Leben kam.
Rassistisch motivierte Polizeigewalt? Aktivisten vermuten, Oury Jalloh wurde getötetBild: picture-alliance/dpa/S. Willnow

Das Ergebnis: Die Spezialisten konnten die dokumentierten Folgen des Feuers - die fast vollständig verbrannte Leiche, die starken Rauchrückstände an den Kachelwänden – in der Rekonstruktion nur wiederherstellen, indem sie 2,5 Liter Benzin über die Puppe gossen. Peck konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob mehr oder weniger Flüssigkeit oder eine andere Art von Flüssigkeit verwendet wurde. Aber der Forensiker betonte kategorisch, es sei unmöglich, ein solches Feuer allein mit einem Feuerzeug zu verursachen.

Pecks Schlussfolgerung: Der an Händen und Füßen an einer kleinen Plattform mit Matratze fixierte Jalloh habe "weder den Bewegungsspielraum noch andere Möglichkeiten gehabt, die Matratze selbst in Brand zu setzen." Darüber hinaus zeigten Rauchrückstände an den Wänden der Zelle und im Korridor, dass die Zellentür die meiste Zeit der 30 Minuten, in denen das Feuer brannte, offen gewesen sein muss.

"Die Ergebnisse sprechen für sich", betonte Peck gegenüber der DW. "Ich denke, man kann visuell sehen, dass der Schaden ziemlich ähnlich ist."

Offizielle Version und eine Reihe von Enthüllungen

Die Umstände von Jallohs Tod sind schon lange umstritten. Den Behörden zufolge soll sich Jalloh selbst angezündet haben. Von Anfang an hielten viele diese Version für wenig glaubhaft. 2017 wurden Akten der Staatsanwaltschaft Dessau der ARD zugespielt. Aus ihnen ging hervor, dass auch mehrere gerichtsmedizinische Sachverständige zu dem Schluss gekommen waren, dass ein Mord wahrscheinlicher ist als ein Selbstmord und dass Jalloh entweder tot oder bewusstlos gewesen sein muss, als das Feuer gelegt wurde.

Im Jahr 2019 berichteten deutsche Medien, eine gerichtsmedizinische Untersuchung sei zu dem Schluss gekommen, dass Jalloh in der Zelle schwere Verletzungen erlitten hatte - darunter einen Schädelbruch, eine gebrochene Nase und eine gebrochene Rippe. Auch diese Untersuchung war von der "Initiative in Gedenken an Oury Jalloh" in Auftrag gegeben worden; durchgeführt hatte sie ein Frankfurter Pathologe.

Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wurden jedoch aus Mangel an Beweisen eingestellt. 2020 kam ein 300-Seiten starker und im Auftrag des Landtags von Sachsen-Anhalts erstellter Bericht zu dem Schluss, das damalige Vorgehen der Polizei sei fehlerhaft und "rechtswidrig" gewesen. Anlass für eine Mordermittlung sah der Bericht gleichwohl nicht.

Deutschland | Am 3. Juni 2020 halten in München Demonstranten beim Protest gegen den Tod des US-Amerikaners George Floyd Proteste ein Transparent hoch, auf dem neben Floyd auch Jalloh zu sehen ist.
Im Zusammenhang mit dem Mord an dem US-Amerikaner George Floyd wurde letztes Jahr auch an den Fall Jalloh erinnertBild: picture-alliance/ZUMAPRESS/S. Babbar

Neue Ermittlungen?

Die Aktivisten hoffen, die jüngste Rekonstruktion von Jallohs Feuertod werde neue Anstöße für Ermittlungen geben. Nadine Saeed von der Oury Jalloh Initiative sieht die offizielle Darstellung widerlegt: "Das ist das erste Mal, dass wir diese Bewegungsversuche in einer original nachgebauten Zelle durchführen konnten, und festgestellt haben, dass die Bewegungsmöglichkeiten von Oury Jalloh nicht ausgereicht haben um die Matratze in Brand zu setzen", sagte Saeed der DW. "Das ist einfach physikalisch unmöglich und komplett ausgeschlossen."

Die Nachstellung werde neue Strafanzeigen wegen Behinderung der Justiz gegen leitende Staatsanwälte in Sachsen-Anhalt auslösen, kündigte Beate Böhler an, die Anwältin von Jallohs Familie. Böhler hofft, die neuen Erkenntnisse reichen aus, um neue Ermittlungen anzustoßen - sei es durch Staatsanwälte in Sachsen-Anhalt oder durch Bundesanwälte.

Bei der Pressekonferenz war auch Jallohs Freund Mouctar Bah zugegen. Der Ladenbesitzer aus Dessau hatte Jalloh noch am Abend seines Todes gesehen. "Ich war zutiefst schockiert, als ich diese Bilder sah", sagte Bah der DW. "Dass er so verbrannt wurde - ich muss ständig an ihn denken und daran, wie es in dieser Zelle gewesen sein muss. Alles nur wegen seiner Hautfarbe? Das macht mich traurig."

Bah hat seinen Freund auch nach all den Jahren noch gut in Erinnerung: "Er war ein freundlicher Mensch, ein lustiger Mensch, jemand, der viel über Politik sprach", sagt Bah. "Und er war so offen. Wir haben immer zusammen gegessen, und er hat Spanier, Juden, Deutsche, Vietnamesen mitgebracht - und wir haben ihn immer gefragt: Woher nimmst du all diese Leute? Das alles hat mich bis heute nicht losgelassen."