"Hunger nicht mit Ideologie bekämpfen"
31. Juli 2019Deutsche Welle: In der vergangenen Woche hat Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro erklärt, es sei "eine große Lüge", zu behaupten, dass in Brasilien Menschen an Hunger litten. Später relativierte er seine Aussage. Vernachlässigt der Präsident das Thema Hunger?
José Graziano da Silva: Ich war geschockt, weil der Präsident falsch informiert ist. Hunger war und ist ein sehr ernstes Thema in Brasilien. Die Art und Weise, wie Bolsonaro darüber redet, offenbart eine gewisse Vernachlässigung des Themas.
Im Jahr 2000 waren in Brasilien 19 Millionen Menschen vom Hunger bedroht, dies entsprach einem Anteil von rund zehn Prozent der Bevölkerung. Zwischen 2008 und 2010 war der Anteil auf 2,5 Prozent gesunken. Wie schätzen Sie die aktuelle Lage in Brasilien ein?
Brasilien hat den Hunger besiegt. Die FAO hat Brasilien 2014 von der Welthungerkarte entfernt, weil der Anteil der unterernährten Bevölkerung auf unter fünf Prozent gesunken ist. Doch meines Erachtens vernachlässigt die brasilianische Regierung zurzeit die sozialen Programme, die den Hunger im Land verringert haben.
Besteht die Gefahr, dass Brasilien auf die Welthungerkarte zurückkehrt?
Ideologie darf bei der Bekämpfung des Hungers keine Rolle spielen. Es geht um eine gesunde Ernährung, auf die nach der brasilianischen Verfassung ein Recht besteht. Dafür braucht es mehr als ein Regierungsprogramm. Dies ist die Entscheidung einer ganzen Gesellschaft. Regierungen kommen und gehen, aber Schulspeisungen und Suppenküchen müssen aufrechterhalten werden, genauso wie die Unterstützung kleinbäuerlicher Familienbetriebe oder soziale Transferprogramme für die ärmsten Bevölkerungsschichten.
Welche Rolle spielt die wachsende Arbeitslosigkeit in Brasilien bei der Bekämpfung des Hungers?
Sie ist das größte Problem. Nach Angaben des brasilianischen Statistikamtes IBGE sind in Brasilien 21 Millionen Menschen arbeitslos und sieben Millionen Menschen arbeiten weniger, als sie wollen. Arbeitslos zu werden, ist in Brasilien mittlerweile gleichbedeutend mit der Gefahr, Hunger zu leiden, denn es gibt keine sozialen Sicherheitssysteme wie in Europa.
Das 2003 in Brasilien aufgelegte Programm "Null Hunger” ist von der FAO als weltweite Referenz für erfolgreiche Hungerbekämpfung empfohlen worden. Wie sehen Sie die Zukunft des Programms?
"Null Hunger” war eines der ersten Programme, bei dem die Steigerung landwirtschaftlicher Produktion mit Einkommen schaffenden Maßnahmen kombiniert worden sind. Zuvor war man immer davon ausgegangen, dass Hunger schlicht auf den Mangel an Nahrungsmitteln zurückzuführen ist. Doch das greift zu kurz, denn es werden weltweit ausreichend Nahrungsmittel zur Versorgung der Bevölkerung hergestellt. Das Problem ist also nicht der Mangel, sondern der Zugang zu Nahrungsmitteln. Die Leute haben kein Geld, um sich Lebensmittel zu kaufen."
Lateinamerika verzeichnet laut jüngstem FAO-Bericht bei der Hungerbekämpfung die größten Rückschritte. Ist Venezuela dafür verantwortlich?
Venezuela ist heute der schlimmste Fall Lateinamerikas. Laut FAO war zwischen 2016 und 2018 rund ein Fünftel der Bevölkerung (genauer: 21,2 Prozent, d.R.), also rund 6,8 Millionen Menschen, unterernährt. Zwischen 2012 und 2014 lag der Anteil bei 6,4 Prozent. Das Land war immer von Nahrungsmittelimporten abhängig. Durch die Hyperinflation verfügt Venezuela praktisch über keine Währung mehr, um Importe zu bezahlen. Die von den USA verhängte Blockade gegenüber Venezuela verschärft die Lage zusätzlich.
Noch 2014 wurde Venezuelas Präsident Nicolás Maduro von der FAO für die erfolgreiche Bekämpfung des Hungers ausgezeichnet. Zu diesem Zeitpunkt zeichnete sich die Krise im Land bereits ab. Warum erfolgte die Auszeichnung in diesem Moment?
Als wir den Preis überreicht haben, konnte niemand diese Hyperinflation und die damit verbundene Zunahme des Hungers vorhersehen. Der Preis wurde 2014 übergeben und bezog sich auf Daten aus dem Jahr 2012. Zwischen 2000 und 2012 verringerte sich die Anzahl der von Hunger bedrohten Menschen im Land von 16 auf rund 3,7 Millionen Menschen.
Das Gespräch führte Karina Gomes da Silva.
José Graziano da Silva leitete sieben Jahre lang die UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO). Der brasilianische Agronom und Schriftsteller war von 2003 bis 2004 Minister für Ernährungssicherheit unter Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva und gehörte zu den Gründern des brasilianischen Programmes "Null Hunger".