"Fassbinder hatte ein sicheres Gespür für wunde Stellen"
31. Mai 2005
DW-WORLD: Im Pariser Centre Pompidou läuft derzeit mit großem Erfolg eine Fassbinder-Ausstellung samt Retrospektive. In Deutschland erinnert man sich eher verhalten an den Regisseur. Ist Fassbinder hierzulande schon vergessen?
Michael Töteberg: Es ist eigentlich schon immer ein wenig so gewesen, dass Fassbinder im Ausland eine stärkere Resonanz hatte. Einige Filme sind etwa in den USA viel besser gelaufen als hier. Er steht im Ausland für Deutschland, das Deutschlandbild ist von seinen Filmen mitgeprägt worden. Fassbinder ist im Weltkino angekommen. Rund um die Welt beziehen sich Filmemacher auf ihn, François Ozon in Frankreich ebenso wie Wong Kar Wei in China. Eine solche produktive Rezeption findet in Deutschland leider kaum statt.
Sehen Sie keine deutschen Fassbinder-Erben?
Vielleicht Fatih Akin. Er ist ein ähnlich wilder und unangepasster Regisseur.
Und was ist mit Christoph Schlingensief oder Oskar Röhler?
Die sicherlich auch. Die Frage nach dem filmischen Erbe ist bei Fassbinder aber besonders schwer zu beantworten, da es bei ihm nicht den einen Film gibt, bei dem man sagen könnte: "Ach, hier ist das Meisterwerk, mit dem er gereift ist." Oder: "Auf diesen Film lief alles drauf zu." Seine Filme sind zu unterschiedlich, als dass sich eine Entwicklungslinie ausmachen ließe. Es ist vielmehr eine bestimmte Haltung, ein radikaler Ansatz, der sein Werk charakterisiert: Immer etwas Neues ausprobieren, sich nicht festlegen lassen, auf das perfekte Melodrama einen kleinen schmutzigen Film folgen lassen, auf die stilisierte Literaturverfilmung einen selbstquälerischen Low-Budget-Streifen oder ein Schwulen-Drama, und so sehr die Themen und Genres auch wechseln, stets der Wille, die Grenzen neu zu definieren. Schlingensief verkörpert mit Sicherheit eine Facette von Fassbinder. Aber Fassbinder ist mehr, er repräsentiert einen breiteren Ansatz.
Aber schauen Sie, was jetzt zum Geburtstag wieder im Fernsehen läuft! Immer nur die einfachen, etwas holzschnittartigen Melodramen wie "Angst essen Seele auf" (1973) - ich weiß nicht, wie häufig der mittlerweile im deutschen Fernsehen ausgestrahlt worden ist. Nicht aber die randständigen, widerborstigen, sperrigen Filme, die Zumutungen, die Fassbinder hinterlassen hat. Die scheinen aus dem Programm verbannt.
Sie würden es also begrüßen, wenn jetzt zu Fassbinders 60. Geburtstag endlich sein bis heute nicht in Deutschland gespieltes Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod" aufgeführt würde?
Ja und zwar ganz unabhängig vom Geburtstag. Das Stück ist inzwischen in Deutschland zu einem belastenden Tabu geworden. Eine Aufführung wäre ein befreiender Akt.
Um das Stück hat sich Ende der 1970er-Jahre eine heftige Kontroverse entzündet, wegen des vermeintlich antisemitischen Inhalts. Ist an den Vorwürfen was dran oder wollte Fassbinder einfach nur provozieren, ein Tabu brechen?
Eine wirkliche Lektüre oder eine richtige Aufführung des Stücks würde den Vorwurf in sich zusammenfallen lassen. Ich glaube nicht, dass Fassbinder damals bewusst ein Tabu brechen wollte. Als er das Stück geschrieben hat, war er noch relativ jung, 20 Jahre alt und konnte kaum überschauen, was sein - wie stets in wenigen Tagen geschriebener - Text auslösen würde. Aber: Er hatte ein sicheres Gespür für wunde Stellen - und er hatte auch nie die Scheu, diese Wunden aufzureißen. Das Stück ist leider geradezu stigmatisiert. Man sollte darüber diskutieren. Schließlich wird es mittlerweile auf der ganzen Welt - auch in Israel - gespielt.
War Fassbinder politisch?
Fassbinder hat immer gesagt: "Ich muss auf meine Wirklichkeit direkt und radikal reagieren können." Diese Wirklichkeit war natürlich auch politisch. Er hatte aber kein politisches Programm im Kopf, für dessen Illustration er sich dann Themen für Filme ausgedacht hätte. Als er "Der Müll, die Stadt und der Tod" geschrieben hat, lebte er in Frankfurt und die Westend-Spekulationen, um die sich das Stück dreht, waren Teil seiner Wirklichkeit. Wo Fassbinder politisch zu verorten ist, lässt sich aber nicht so einfach sagen. Sicher war er irgendwie links. Trotzdem war er den Linken immer suspekt – ein unsicherer Kantonist, keine Frage. Aber ein Linksfaschist, eine Zuschreibung von Joachim Fest anlässlich des umstrittenen Stücks, das war er mit Sicherheit nicht. Das halte ich für abwegig.
Lesen Sie im zweiten Teil, wie chaotisch und kitschig Fassbinder war und wie aktuell er heute noch ist.
"Schlafen kann ich, wenn ich tot bin" ist das wohl bekannteste Fassbinder-Zitat. War seine Selbstzerstörung, sein unglaubliches Arbeitspensum, Programm?
Es war bestimmt kein Selbstmord auf Raten. Er konnte nicht in Ruhe sitzen und abwarten, er wollte immer nach vorne streben. Wenn Fassbinder eine Szene misslang, dann wiederholte er die nicht, sondern drehte einfach einen neuen Film, in dem eine ähnliche Szene vorkam, um sie dann besser zu machen. Deshalb gibt es so viele Filme von ihm! An einigen Filmen kann man richtige Lernprozesse beobachten. Die Arbeit war für ihn das wichtigste, er dachte immer schon an das nächste Projekt. Er konnte keinen Urlaub machen.
Wie autobiografisch sind seine Filme?
Alles was er gemacht hat, hatte mit ihm und mit seiner Crew, der Fassbinder-Family zu tun. Aber nicht im Sinne eines realistischen Abbilds. Er hatte von jedem seiner Leute ein Bild im Kopf und versuchte, dieses in seinen Filmen zu inszenieren. Das hat natürlich auch Widerspruch innerhalb der Clique provoziert. Das Bild, das er etwa von Irm Hermann hatte, war nicht unbedingt mit dem identisch, wie sich Frau Hermann selbst sah. Er besetzte übrigens seine Filme mitunter mit recht perfiden Hintergedanken. Etwa weil er Menschen an sich binden oder demütigen wollte. Und es sind Filme entstanden, nur weil Rainer nicht wollte, dass Hanna Schygulla woanders spielte.
Bei aller Brutalität und Radikalität: Fassbinder scheute auch vor Melodram und Kitsch nicht zurück. Woher rührt diese Neigung zum Kitsch?
Ich glaube, dass er das als Gefühlsrealität, als Wahrheit empfunden hat und nicht als Kitsch. Mit Sicherheit hat er Emotionen nicht wie heutzutage etwa im Fernsehen üblich als Quotenbringer eingesetzt – diese Art von Zynismus gegenüber dem Publikum war ihm fremd. Er wusste, dass der so genannte Kitsch auch ein Trugbild ist, mit denen Machtspiele - politische Spiele und Liebespiele - betrieben werden können.
Wie hat Fassbinder gearbeitet?
Der Vertrag zu seinem letzten Film, Querelle (1982), illustriert seine Arbeitsweise. Darin steht: Es gibt so und so viele Drehtage und für jeden Tag, an dem gedreht wird, bekommt der Regisseur eine bestimmte Summe vom Produzenten in bar vorbeigebracht - und wenn der nicht kam, wurde auch nicht gedreht. Sollte der Regisseur früher fertig werden, bekommt er noch einen Bonus für die eingesparten Drehtage. Das Spiel war aber immerhin fair: Für jeden Tag, den er länger zum Drehen brauchte als vereinbart, hätte Fassbinder dem Produzenten Bargeld zurückzahlen müssen.
Fassbinder galt als chaotisch, unkontrolliert, ja tyrannisch. Wie viel ist dran an diesem Image?
Dass er unkontrolliert gearbeitet hat, kann ich nicht glauben, sein Produktionspensum spricht eine andere Sprache. Nehmen Sie das Großprojekt "Berlin Alexanderplatz" (1980). Selbst mit dieser Riesenproduktion ist er schneller fertig geworden als vorgesehen war. Es gab freilich chaotische Verhältnisse bei den Dreharbeiten und viele der Geschichten, die kolportiert werden, stimmen wohl auch. Vieles gehört aber auch in den Bereich der Mythologie.
Sind seine Filme heute noch aktuell?
Es gibt Filme, denen man einfach ansieht, dass sie aus den 1970er-Jahren stammen. Filme wie "Martha" (1973) oder "Chinesisches Roulette" (1976) würde ich aber sehr gerne mal wieder im Kino sehen. Und nehmen Sie die Fontane-Verfilmung "Effi Briest" von 1974: Dieser Film ist noch heute eine reine Provokation.