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"Wintermärchen" - Bester Spielfilm 2019

Jochen Kürten
25. Februar 2020

Der Film "Wintermärchen" von Jan Bonny erhält den Preis der deutschen Filmkritik 2019. Der Regisseur fragt in seinem Drama, was junge Menschen zum Rechtsradikalismus treibt. Die DW sprach mit Bonny über sein Werk.

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Pressebilder „Wintermärchen“ von Jan Bonny
Bild: W-film / Heimatfilm

Das Vorbild scheint nahe zu liegen. "Wintermärchen", der von drei jungen Menschen mit rechtem Gedankengut und finsteren Mordplänen handelt, erinnert stark an die Morde des rechtsextremen Terrornetzwerks NSU. Weltpremiere feierte der Film bei den Festspielen in Locarno im August 2018. Dort erregte er die Gemüter, schildert Regisseur Jan Bonny die Taten der drei jungen Rechtsradikalen doch ohne jedes politische und ideologische Motiv. Die jungen Leute werden vielmehr von einem Motivgeflecht aus Langeweile und Frust angetrieben. 

Im deutschen Kino lief der Film im Frühjahr 2019 an. Bereits damals waren hiesige Kritiker angetan. Nun verleiht der Verband der deutschen Filmkritik (VdFk) "Wintermärchen" im Rahmen der Berlinale die Auszeichnung als bester Spielfilm des vergangenen Kalenderjahres. Daneben erhielt Bonnys Film zwei weitere Preise: Das Schauspieler-Trio Ricarda Seifried, Jean-Luc Bubert und Thomas Schubert erhielt einen Sonderpreis als Darsteller-Ensemble und Kameramann Benjamin Loeb wurde für seine Bildgestaltung ausgezeichnet. Insgesamt vergab der VdFk Preise in 13 Kategorien. Corinna Harfouch erhielt die Auszeichnung als Beste Darstellerin der Titelfigur von "Lara" (R: Jan-Ole Gerster) und als Bester Darsteller gekürt wurde Alexander Fehling für seine Rolle als Patrick Lemke in Philipp Leinemanns "Das Ende der Wahrheit". 

"Wintermärchen" - Ein Film über rechten Terror

Pressebilder „Wintermärchen“ von Jan Bonny
Zwei Männer und eine junge Frau verstricken sich in Lügen: "Wintermärchen"Bild: W-film / Heimatfilm

Kurz nach der Weltpremiere von Bonnys "Wintermärchen" in der Schweiz lief ein zweiter Film des Regisseurs im deutschen Fernsehen. Für die populäre Reihe "Polizeiruf 110" drehte Bonny die Folge "Das Gespenst der Freiheit" - auch dort geht es um Rechtsradikalismus in Deutschland. Anlässlich der doppelten Film-Premiere trafen wir Jan Bonny im vergangenen Jahr zum Gespräch.

Deutsche Welle: In "Wintermärchen" geht es um eine junge Frau und zwei Männer, die eine rechte Terrorzelle bilden. Der Film konzentriert sich auf die Gefühlswelten der drei Protagonisten. "Polizeiruf 110: Das Gespenst der Freiheit" erzählt ebenfalls von einer Gruppe junger Menschen, die rechtsnationalem Gedankengut anhängen. Hier sind es aber auch die staatlichen Institutionen Polizei und Verfassungsschutz, die eine Rolle spielen. War das von Anfang an so angedacht, zwei Filme zu einem Thema?

Jan Bonny: Nein, ich habe mit meinem Freund Alex Wissel eine Reihe von künstlerischen Arbeiten gemacht. Wissel ist bildender Künstler, wir haben Sachen für das Theater "Berliner Volksbühne" gemacht und für das "Museum Abteiberg" in Mönchengladbach. In diesem Zusammenhang waren wir auch in München und sind zum NSU-Prozess gegangen, um das vor Ort zu sehen und wahrzunehmen. Wissel hat zum NSU-Prozess in den letzten Jahren eine ganze Reihe von künstlerischen Arbeiten gemacht, auch über den gescheiterten Anschlag in der Düsseldorfer S-Bahn-Station.

Pressebilder „Wintermärchen“ von Jan Bonny
In "Wintermärchen" geht es vor allem um die wirre Gefühlswelt der drei jungen TerroristenBild: W-film / Heimatfilm

Wir hatten beide das Gefühl, dass man sich dem Thema rechte Gewalt mal anders annähern müsste, anders als bei den Sachen, die wir bis zu dem Zeitpunkt wahrgenommen haben. Insofern gibt es natürlich einen Zusammenhang zwischen "Wintermärchen" und dem "Polizeiruf".

"Wintermärchen" ist aber kein Film über den NSU, sondern eine freie, fiktionale Arbeit. Es sollte auch ein Film sein, der den Zuschauer mit seiner Art der Erzählung auf eine bestimmte Art und Weise alleine lässt. Der ihn in die Pflicht nimmt, selbst eine Haltung zu dem, was da erzählt wird, zu beziehen. Diese Haltung soll nicht schon vorbuchstabiert werden. Der Zuschauer soll auf unsicheres Terrain gebracht werden.

Bei einem "Polizeiruf" funktioniert das dagegen grundsätzlich anders, weil man natürlich ganz klassisch mit einem Kommissar unterwegs ist, der dem Zuschauer eine andere Sicherheit bringt, einen anderen Weg durch den Film bahnt.

…wobei Sie auch in "Polizeiruf 110: Das Gespenst der Freiheit" nicht konventionell erzählen. Sie breiten im Grunde genommen parallel drei Handlungen vor dem Zuschauer aus: die der rechten Jugendlichen, die des Kommissars und auch noch die eines Verfassungsschutz-Beamten.

Das stimmt. Aber man arbeitet natürlich auch viel mit Erzählkonventionen in einem "Polizeiruf", und das ist auch in Ordnung. Bei einem Polizeifilm mit tradierten Figuren und Formen ist man auch in der Pflicht, diese ernst zu nehmen. Die Figuren können sich dann aber anders verhalten, als man es vielleicht erwartet. Dass Figuren einen überraschen, macht auch eine spannende Erzählung aus.

Aber die Überraschung findet auf der Grundlage statt, dass man die Erwartung der Zuschauer an die Figuren erst einmal ernst nimmt, keine Mätzchen um der Mätzchen willen einbaut und auch klassisch erzählt.

Polizeiruf 110: Das Gespenst der Freiheit
Polizei und Verfassungsschutz nur scheinbar Hand in Hand gegen rechten Terror: Jan Bonnys "Polizeiruf"Bild: BR/X Filme Creative Pool Enterta

Was war denn das Andere, das Neue, das Sie zeigen wollten in Bezug auf die Darstellung von Rechtsnationalismus in Deutschland?

Das muss jemand anders beurteilen, ich würde mich davor hüten, das selbst zu bewerten. Das einzige, was ich sagen kann: Ich wollte bei "Wintermärchen" versuchen, Figuren und Figuren-Konstellationen zu zeigen, die jetzt gerade erst möglich werden in Deutschland, schrecklicherweise jetzt möglich werden. Jede Zeit bringt ihre Figuren hervor. Die drei jungen Leute in "Wintermärchen" scheinen mir irgendwie Ausdruck unserer Gegenwart und unserer Zeit zu sein.

Auch im "Polizeiruf" zeigen Sie junge Leute, von denen an einer Stelle gesagt wird, sie entsprächen nicht dem Klischee von "typischen" Neo-Nazis mit Springerstiefeln, Lederjacken und Stiernacken, ganz "normale" Menschen eben…

Ja, wobei "Wintermärchen" und der "Polizeiruf" auch sehr unterschiedliche Filme sind. Beim "Polizeiruf" geht es auch um eine ungeklärte Gegenwart: Keiner macht etwas richtig, alle machen etwas falsch…

Meinen Sie damit auch die Seite des Staates im "Polizeiruf", also die Polizei auf der einen und der Verfassungsschutz auf der anderen Seite?

Ja, wobei der Film keine Wertung vornimmt, wer richtig liegt: die Polizei und/oder der Verfassungsschutzbeamte Röhl. Da muss der Zuschauer sich immer fragen, wie er sich dazu stellen und verhalten soll. Auch der Polizist ist unsicher. Er schwankt in seinen Handlungen, macht Fehler und das ist auch das Interessante. Wobei sich dann daraus Fragen ergeben: Sind das überhaupt Fehler? Der "Polizeiruf" hat auch eine eigenartige Melancholie, eine Ratlosigkeit. Das passt ja vielleicht auch gerade in unsere Zeit.

Regisseur Jan Bonny
Provokant: Regisseur Jan BonnyBild: picture alliance / dpa

Ich finde es grundsätzlich schön, wenn es in Filmen Brüche und Risse gibt, wenn Sachen gegeneinander stoßen, wenn nicht alles ganz aufgeklärt wird, wenn der Zuschauer Lücken, die vorhanden sind, selbst beantworten muss. Wenn es am Ende keine saubere, abgeschlossene Erzählung ist. Das ist im Leben ja auch so.

Aber in einer Sache geben Sie doch auch Antworten: Polizei und Staatsschutz werden Versagen vorgeworfen.

Ja, das stimmt. Aber: Erstmal geht es nur um die zwei Figuren, um einen Polizisten und einen Beamten des Verfassungsschutzes. Ich würde sie nicht als Stellvertreter für einen ganzen Staat sehen, das geht zu weit. Es geht um Figuren, die scheitern. Aber ich stelle auch die Frage: Scheitern sie wirklich? Gewinnen sie am Ende nicht auch? Ist der Polizist am Ende nicht doch eine Figur, die zwar Fehler macht, aber eine moralische Instanz ist?

Man muss das aushalten: Die Frage, ob jemand, der moralisch integer ist, nicht auch etwas falsch machen kann. Dadurch ist seine moralische Haltung auch nicht so schulmeisterlich. Als Zuschauer muss man sich fragen, ob man bereit ist, sich damit auseinanderzusetzen oder eben nicht.

Pressebilder „Wintermärchen“ von Jan Bonny
Ricarda Seifried spielt Becky, die auch an das NSU-Mitglied Beate Zschäpe erinnertBild: W-film / Heimatfilm

Wie haben Sie für die beiden Filme recherchiert, sind Sie ins Milieu abgetaucht?

Wenn man Filme macht, dann recherchiert man doch eigentlich immer. Man muss allem immer mit Neugier begegnen, muss immer versuchen, zu beobachten, am Leben teilzunehmen, sich Gedanken über alles machen.

Es ist nicht so, dass Recherche bedeutet: Man fängt einen Film an und beginnt erst dann, sich mit einem Thema zu beschäftigen. In Wahrheit ist der Film doch ein Ausdruck für das, womit man sich sowieso beschäftigt. Es sind Prozesse, die nicht plötzlich anfangen und enden. Es sind Prozesse, die ineinandergreifen.

Dies ist eine aktualisierte Version des Artikels von 2019 anlässlich der Preisvergabe durch den VdFk. "Wintermärchen" lief am 21.03.2019 in den deutschen Kinos an. Das Gespräch führte Jochen Kürten kurz vor der Locarno-Premiere. "Wintermärchen" lief als einziger deutscher Beitrag im Wettbewerb des Festivals von Locarno. Anschließend wurde der Film u.a. noch beim Internationalen Filmfestival im brasilianischen São Paulo aufgeführt.