Fit für 55: EU macht Ernst mit Klimaschutz
7. Juni 2022"Fit für 55". Mit diesem griffigen Titel meint die EU nicht Sport im Alter, sondern eine umfangreiche Klimagesetzgebung, die die europäischen Gesellschaften fit für 55 Prozent weniger klimaschädlicher Emissionen bis zum Jahr 2035 machen soll.
"Fit für 55" ist eine wichtige Vorstufe für das Ziel der Europäischen Union im Jahr 2050, der erste klimaneutrale Kontinent zu werden, um die globale Erwärmung aufzuhalten. Die EU-Kommission hat 13 umfangreiche Gesetzespakete auf den Weg gebracht, die von den Mitgliedsstaaten im Rat und vom Europäischen Parlament beraten werden.
An diesem Dienstag und Mittwoch stimmen die Abgeordneten des Parlaments über die Bestimmungen ab und legen damit ihre Position für das Gesetzgebungsverfahren fest. Danach beginnen die Verhandlungen mit dem Rat, also den Vertretern der 27 Mitgliedsländer, und der EU-Kommission in einem Verfahren, das sich Trilog nennt. Bis die neuen EU-Klimagesetze ausverhandelt sind und von den Mitgliedsstaaten in nationales Recht umgesetzt werden, können noch zwei bis drei Jahre vergehen.
Neue Klima-Abgabe an den Grenzen
Ganz neu in den "Fit vor 55"-Gesetzen ist die Einführung eines "Grenzausgleichsystems für Kohlendioxid" (EU-Jargon: CBAM) von 2026 an. Waren, die außerhalb der EU unter Ausstoß von Kohlendioxid hergestellt wurden, sollen bei der Einfuhr in die EU mit einer Abgabe belegt werden.
Das soll, sagt zum Beispiel der österreichische Finanzminister Magnus Brunner, Wettbewerbsnachteile ausgleichen. Denn Firmen innerhalb der EU müssen bereits für ihren CO2-Verbrauch durch den Kauf von Emissionsrechten in Europa bezahlen.
Mit diesem weltweit ersten Ausgleichsystem sorge die EU dafür, das europäische Firmen nicht benachteiligt werden. "Es geht nicht um Protektionismus", meint Pascal Canfin. Der liberale Franzose ist Vorsitzender des Umweltausschusses im Europäischen Parlament.
Mohammed Chahim, Europaabgeordneter der Sozialdemokraten aus den Niederlanden, ist sich sicher, dass Staaten außerhalb der EU mit eigenen Ausgleichssystemen für Klimagase reagieren werden. Mit den USA, Kanada und Australien werde es wahrscheinlich ein gemeinsames Vorgehen geben können.
Der Abgeordnete Peter Liese von den Christdemokraten warnt, dass man CBAM klug einsetzen müsse, denn es könne nicht darum gehen, Industrien aus der EU zu vertreiben, sondern nur darum, kein CO2 mehr auszustoßen. CBAM soll zunächst für die Sektoren Zement, Eisen, Stahl, Aluminium, Düngemittel und Strom eingeführt werden.
Ende der Verbrenner-Ära
Umstritten sind zwischen Parlament und Mitgliedsstaaten vor allem die Ziele für den Auto-Verkehr. Der Vorschlag von 100 Prozent Abgasreduzierung bis 2035 liegt auf dem Tisch. Einigen Mitgliedsstaaten geht das zu weit. Sie wollen dieses Ziel erst 2040 erreichen oder nur eine Reduzierung um 90 Prozent.
Die Vorgabe käme praktisch einem Verbot der Neuzulassung von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotoren gleich. 2050 sollen dann alle alten Fahrzeuge, die noch Benzin oder Diesel brauchen, aus der EU verschwinden. Schiffe und Flugzeuge sollen in Zukunft mit sauberen Treibstoffen fahren und fliegen.
Neue Richtwerte schlägt die EU-Kommission für eine ganze Reihe von Bereichen vor: Beim Emissionshandel mit Verschmutzungsrechten soll der Ausstoß von CO2 um 61 Prozent bis zum Jahr 2030 begrenzt werden. Der Anteil erneuerbarer Energie aus Wind, Wasser und Sonne am Energiemix soll auf 40 Prozent im Jahr 2030 festgesetzt werden.
Außerdem soll der Landverbrauch sinken. Waldflächen, die Kohlendioxid absorbieren, sollen ausgeweitet werden. Gleichzeitig will die EU einen Sozial-Fonds für Verbraucher und Firmen einführen, die von der neuen Klimapolitik wirtschaftlich stark benachteiligt werden und sich zum Beispiel eine klimagerechte Heizungsanlage oder energetische Sanierung ihrer Häuser nicht leisten können.
Krieg in der Ukraine beeinflusst Klima-Diskussion
Um "fit" für die 55 Prozent zu werden, muss die EU generell sehr viel weniger fossile Brennstoffe verbrauchen, meint Peter Liese, deutscher Europaabgeordneter der Christdemokraten. Vor dem Hintergrund des russischen Krieges gegen die Ukraine hat die Diskussion um die Abkoppelung von Kohle, Öl und Gas noch einmal an Fahrt aufgenommen.
Manche Parlamentarier fordern, den Ausstieg stark zu beschleunigen, um Unabhängigkeit zu erreichen. Andere warnen davor, Gesellschaft und Wirtschaft nicht zu überfordern und eine längere Nutzung fossiler Brennstoffe zu erwägen, die dann aus anderen Quellen im Nahen Osten oder den USA kommen sollen.
Die Energieexpertin der Brüsseler Denkfabrik "European Policy Centre”, Annika Hedberg, ist überzeugt, dass trotz der kurzfristigen Schwierigkeiten jetzt langfristig wirksame Entscheidungen gefragt sind. "Wir sind sehr darauf angewiesen, dass diese Botschaft überall in der EU gehört wird. In vielerlei Hinsicht sollte der Krieg uns nicht bremsen, sondern den Kampf gegen den Klimawandel sogar noch beschleunigen.”
Der Ausstieg aus fossiler Energie werde unfreiwillig schneller erfolgen müssen, so Hedberg im Gespräch mit der DW. "Es wird noch zu viel über eine Bewahrung des status quo und neue Lieferanten für fossile Energie diskutiert. Tatsächlich müssen wir schauen, wie wir in Energieeinsparung, bessere Effizienz und heimische Energieträger investieren können.”