14 Stunden Lebensgefahr
29. April 2016Der Einsatzbefehl für die "Frankfurt am Main" kommt Donnerstagmorgen kurz nach halb neun. Eben noch dümpelte der sogenannte Einsatzgruppenversorger auf den blauen Wellen des Mittelmeeres. In der Messe frühstücken noch die letzten Besatzungsmitglieder. Dann wendet das Schiff, nimmt Fahrt auf. Die Offiziere werden auf die Brücke gerufen.
"Eine plötzliche Kursänderung und eine Lagebesprechung - das heißt, es passiert was", sagt ein Soldat im Vorbeigehen. Wenig später tönt es aus den Bordlautsprechern: "Hier ist der erste Offizier mit einer Lageinformation." Fünf Flüchtlingsboote sind gesichtet worden - neben der "Frankfurt am Main" werden die deutsche Fregatte "Karlsruhe", die spanische Fregatte "Numancia" und das italienische Marineschiff "Aviere" ins Suchgebiet beordert.
Gegen Mittag ist die Frankfurt vor Ort. Die Vorbereitungen beginnen. Leitstände werden besetzt, sogenannte "Boarding-Teams" machen die Beiboote klar, das Sanitäts-Team versammelt sich. "Denken Sie an ausreichend Flüssigkeit und Sonnenschutz", mahnt der erste Offizier in seiner Durchsage.
Jeder will raus
Das erste Boot mit Flüchtlingen ist ein weißes Schlauchboot. Schlaff hängen die Außenwände über dem Wasser. Lange hätte dieses Boot nicht mehr durchgehalten. Hunderte Köpfe werden im Fernglas sichtbar. Die Beiboote der "Frankfurt am Main" und der Numancia preschen los.
Hunderte Hände strecken sich den Soldaten in den Beibooten entgegen. Ihre Rufe sind auch auf der "Frankfurt am Main" zu hören. Die Menschen haben Angst, wollen das wackelige Schlauchboot so schnell wie möglich verlassen. "Sitzenbleiben, Sitzenbleiben!", ruft ein Soldat durch sein Megaphon. Es ist der Moment, vor dem sich die Soldaten fürchten: Stehen zu viele Flüchtlinge auf einmal auf, droht das Schlauchboot zu kentern. Die Soldaten ziehen Frauen, Männer und Kinder aus dem Boot, in kleinen Gruppen bringen Schlauchboote sie auf die "Frankfurt am Main" und die Numancia. Später übernimmt die "Frankfurt" auch noch die Flüchtlinge, die die Numancia und die italienische Aviere aufgenommen haben.
Viel Zeit haben sie nicht. Der Wind kann jederzeit wieder auffrischen. "Wir hatten nur ein kurzes Zeitfenster, um die Menschen aus ihren Booten zu retten", wird Andreas Schmekel, der Kommandant der "Frankfurt am Main", später sagen, "bevor die See wieder so kabbelig geworden wäre, dass wir eventuell Probleme bekommen hätten".
Angst und Erschöpfung
Auf einem der unteren Decks warten die "in Not geratenen Personen", wie die Migranten aus den Schlauchbooten in der Bundeswehr-Sprache genannt werden. Eng kauern sie sich aneinander. Es sind überwiegend Afrikaner. Es ist ihr Blick, der direkt ins Herz geht: eine Mischung aus Angst und tiefer Erschöpfung, mit der sie auf die Soldaten in den weißen Schutzanzügen, Handschuhen und Mundschutz blicken. Es riecht nach Urin und Desinfektionsmitteln. Eine Mutter hält ein kleines Mädchen im weißen Strampelanzug wärmend in ihren Armen. Ein etwa 20-Jähriger im gelben T-Shirt klammert sich an seinen Nebenmann, der eine Trainingsjacke des spanischen Fußball-Clubs FC Barcelona trägt. Am Ende werden 354 Flüchtlinge an Bord der "Frankfurt am Main" sein, 245 auf der "Karlsruhe".
Auf dem Vordeck sind die Bundeswehr-Teams bei der Arbeit. Ein schneller Gesundheitscheck, Fiebermessen. Registrierung. Viel Zeit, um die erschöpften Migranten zu beruhigen, bleibt nicht. "Wir lächeln, die an Bord genommenen Personen lächeln, man legt mal jemandem die Hand auf die Schulter. Mehr Zeit haben wir nicht, aber ich glaube, die wissen, was wir sagen wollen", sagt Rettungsassistentin Kristin B..
"Die haben uns nicht die Wahrheit gesagt"
In der Nacht wird klar: Die "Frankfurt am Main" wird die Flüchtlinge nach Sizilien bringen. Abdelkader Diayne kann es kaum erwarten, in Europa zu sein. "Weißt Du, wir riskieren eine solche Fahrt doch nicht ohne Grund. Wir wollen arbeiten, richtig malochen". 14 Stunden waren sie in dem wackeligen Schlauchboot, erzählt der schmächtige Senegalese, als er am nächsten Morgen sein Frühstück auf dem Vordeck zu sich nimmt. Er ist der einzige Flüchtling, mit dem wir reden dürfen - weitere Interviews lässt die Bundeswehr nicht zu. Fünf Minuten Gesprächszeit gibt man uns.
Wenn Diayne über die Schleuser spricht, die die Fahrt für ihn organisiert haben, verschwindet das freundliche Lächeln aus seinem Gesicht. "Die haben uns nicht die Wahrheit gesagt. Sie haben uns gesagt, wenn ihr in internationalen Gewässern seid, dann werdet ihr aufgenommen. Und wenn nicht, dann könnt ihr weiterfahren nach Italien. Ihr habt genug Benzin."
Drei Stunden später ist Italien in Sicht. Auf dem Vordeck drängen sich die Flüchtlinge an der Reling. Das Erste, was sie von Europa sehen, ist der Gipfel des Ätnas, der in den Wolken verschwindet. Nach dem Festmachen verlassen sie langsam über die Gangway das Schiff. Fast vorsichtig tasten sie sich die Stufen hinunter. So, als wüssten sie schon, dass ihre Reise noch lange nicht vorbei ist.