Flüchtlingsfrauen kämpfen ums Überleben
22. Dezember 2015Nora hält ihren Sohn in den Armen und erinnert sich an das letzte Mal, als sie ihren Ehemann sah. Die 22-Jährige ist aus Jarmuk geflohen, einem palästinensischen Flüchtlingslager im Süden von Damaskus. Jarmuk ist mittlerweile völlig zerstört. Ihr Mann verabschiedete sich noch von ihrem Kind und machte sich dann auf den Weg zu seinem Laden.
"Es war gefährlich für ihn zu arbeiten", sagt Nora im Gespräch mit der DW. Auf seinem Arbeitsweg musste er drei staatliche Sicherheitskontrollen passieren: "Ich weiß, dass sie ihn mitgenommen haben." Mit "sie", meint Nora Anhänger des Assad-Regimes. Sie müssen es gewesen sein, weil ihr Mann ihr immer versprochen habe, zurückzukommen.
Noras Ehemann verschwand am 24. Juni 2013, einen Monat bevor das syrische Militär mit der Belagerung von Jarmuk begann. Das Regime schloss tausende Zivilisten ein und hungerte sie aus. Von dem einen Flüchtlingslager floh Nora zwei Jahre später in das nächste. Nun lebt sie im libanesischen Palästinenser-Flüchtlingscamp Schatila im Süden Beiruts.
Jetzt muss die Palästinenserin alleine um das Überleben ihrer Familie kämpfen. Nach Angaben der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR ist jede vierte Frau aus Syrien nach dem Tod oder Verschwinden des Mannes auf sich allein gestellt.
Diskriminierung am Arbeitsplatz
Randa Haddad arbeitet für die Nichtregierungsorganisation "Najdeh" und versucht Frauen in den palästinensischen Lagern im Libanon zu helfen. Ausgerechnet hier, wo viele Syrerinnen Zuflucht suchen, seien viele sexueller Belästigung ausgesetzt. "Frauen ohne Ehemänner sind gezwungen zu arbeiten, viele zum ersten Mal in ihrem Leben", so die Sozialarbeiterin. Wenn der Arbeitgeber herausfinde, dass eine Frau keinen Mann hat, komme es vor, dass dieser versucht, die Frau zu missbrauchen oder zu erpressen, sagt Haddad.
Nora arbeitete nach ihrer Ankunft im Libanon in einer Joghurt- und Käsefabrik. Nach kurzer Zeit kündigte sie - aus Angst vor ihren Kollegen: "Sie haben mich die ganze Zeit angestarrt", sagt Nora. "Mich ließ das Gefühl nicht los, dass sie mich jeden Moment anfassen würden." Viele Frauen erzählen auf der Arbeit, dass sie einen Mann haben - das ist oft ihr einziger Schutz.
Wäre Nora angegriffen worden, hätte sie keine Hilfe bei den libanesischen Behörden suchen können. Ein Großteil der syrischen Flüchtlinge im Libanon hat keine legalen Papiere. Die Visa-Anforderungen sind sehr streng und manchmal unmöglich zu erfüllen.
Viele Frauen, die zur Arbeit gezwungen sind, fürchten auch, ihre Weiblichkeit zu verlieren. Das Resultat sind Depressionen und Angstzustände. Einige hungern, um ihre Kinder mit genügend Essen zu versorgen.
Auch innerhalb der Familien komme es ohne die Vaterfigur oft zu Problemen, erzählt die Sozialarbeiterin Randa Haddad. In vielen Haushalten herrsche eine traditionelle Rollenverteilung zwischen Mann und Frau vor. Wenn dann der Vater fehle, fühle sich der älteste Sohn oft unter Druck gesetzt, erzählt Haddad. Er versuche dann die Rolle seines Vaters einzunehmen - nicht selten kontrollieren und missbrauchen die Söhne weibliche Familienmitglieder. "Wir haben Fälle von Jungen, die anfingen ihre Mütter zu schlagen", sagt Haddad. "Sie denken, dass sie damit die Rolle des Mannes im Hause einnehmen."
Kinderarbeit und frühe Ehen
Als eine andere Art der tragischen Problemlösung sehen manche Frauen die Verheiratung ihrer Töchter. Zwar seien frühe Ehen in vielen Regionen üblich, vor allem in ärmeren und vom Krieg gezeichneten Haushalten, sagt Roula El-Masri von der libanesischen Hilfsorganisation "ABAAD", doch gerade zerrissene Familien neigen eher dazu, ihre Töchter früher wegzugeben. "Frühes Heiraten ist ein kultureller Bewältigungsmechanismus", sagt El-Masri. "Dementsprechend wenden Familien in prekären Verhältnissen diese 'Lösung' früher an."
Doch es gibt auch die andere Seite. Die 43-jährige Palästinenserin Umm Nada kam ebenfalls mit ihren drei Töchtern aus Syrien nach Schatila, nachdem ihr ältester Sohn verschwunden war. In den vergangenen zwei Jahren wies sie sieben Heiratsanträge für ihre 15 Jahre alte Tochter ab. "Ich gebe sie nicht her", sagt Umm Nada, während sie ihrer jüngsten Tochter eine Tasse Kaffee eingießt. "Ich kümmere mich um unser Überleben. Alles ist gut, solange wir zusammenbleiben."
Umm Nada sei nicht nur die Brotverdienerin in der Familie, sondern gebe ihren Töchtern auch emotionalen Rückhalt, erzählt Manar, eine der palästinensischen Helferinnen in Schatila: "Umm Nada ist Vater, Mutter, Schwester und beste Freundin für ihre Töchter in einem. Sie sind ihr ein und alles."
Doch so stark wie Umm Nada, die als Putzfrau für eine lokale Nichtregierungsorganisation arbeitet, sind nicht alle. Manche Frauen prostituieren sich. Und zu der Ausbeutung und den Misshandlungen kommt der Schmerz über den Verlust der Liebsten hinzu.
Zurück bei Nora. Sie schaut auf ihre Finger. Ihren Ehering hat sie für 100 Dollar verkauft, um Essen für ihren Sohn zu kaufen, erzählt sie. Sie besitzt kaum noch etwas aus ihrem Leben vor dem Krieg. In der schützenden Dunkelheit ihrer kleinen Behausung erzählt sie ihrem Sohn oft von seinem Vater und dem geschäftigen Leben in Jarmuk. "Ich vermisse, wie er mit unserem Kind gespielt hat", sagt Nora. "Ohne ihn fühle ich mich leer."