Frauen - kaum Thema bei Indiens Wahlen
12. Mai 2014Es ist bereits das fünfte Mal, dass Rama heute in der letzten Spalte der Tabelle vor ihr auf dem Bildschirm ein Kreuzchen macht. Die letzte Spalte steht für sexuelle Belästigung. Als Bemerkung tippt sie ein: "wurde mit Waffe bedroht". Das hat ihr gerade ein 16-jähriges Mädchen am Telefon erzählt. Vor zwei Stunden hat Rama, wie jeden Tag, ihren Dienst bei der Notrufnummer für Frauen, der "Helpline 181", angetreten. "Es gefällt mir, hier zu arbeiten," sagt die 20-Jährige. "In meinem eigenen Fall hat mir die Polizei nicht geholfen, ich fühlte mich alleine gelassen. Hier kann ich anderen Frauen helfen, damit sie es besser haben."
Rama hat selbst erfahren was es bedeutet, sexuell belästigt zu werden. Jahrelang wurde sie von einem viel älteren Mann auf dem Weg zur Schule verfolgt, unfreiwillig mit Schokolade beschenkt oder betatscht, als er zu ihren Eltern zu Besuch kam. Er hätte ihr Vater sein können. Als sie schließlich ihrer Mutter davon erzählt, überredet sie Rama, gegen den Freund der Familie Anzeige zu erstatten.
2000 Mal klingelt das Telefon, jeden Tag
Erfahrungen wie Rama haben alle gemacht, die in dem kleinen "Helpline 181"-Büro in Indiens Hauptstadt Neu Delhi arbeiten. Die Stadt hatte es nach der brutalen Gruppenvergewaltigung einer jungen Studentin Ende 2012 eingerichtet. Mehr als 2000 Mal klingeln hier die Telefone. Jeden Tag. Rund um die Uhr. Entgegen nehmen die Telefonate Studentinnen wie Rama oder Frauen mittleren Alters. Einige von ihnen sind alleinerziehende Mütter und fechten noch immer vor Gericht ihre eigenen Fälle aus.
Die Lage der Frauen im Land sei im Wahlkampf kaum ein Thema gewesen, erzählt Muneera. Sie arbeitet seit dem Start der Hotline in dem fensterlosen Zimmer, beaufsichtigt die Schichtpläne und übernimmt besonders schwere Fälle, also Frauen, die akut gefährdet sind. "Keine der großen Parteien hat sich ernsthaft mit der Situation der Frauen auseinandergesetzt", kritisiert die 35- jährige Mutter.
Fast die Hälfte der Wahlberechtigten sind Frauen
Ein paar Tage später auf einer der Wahlkampfveranstaltungen des Spitzenkandidaten der oppositionellen BJP-Partei, Narendra Modi. Orange-weiß-grüne Fahnen wehen im Wind. Darauf das Symbol der Partei, die Lotusblüte. Viele in der Masse tragen das Gesicht ihres Idols Modi, auf Pappe gedruckt, über den Kopf gespannt. Auch Merja und Neema sind gekommen. Der Parteibus hat die Freundinnen extra für die Veranstaltung aus ihrem Dorf vor den Toren der Metropole abgeholt. "Nur Modi hat die Stärke und den Willen, er wird uns Frauen in eine bessere Zukunft führen", rufen sie den Journalisten zu.
Knapp drei Stunden später hat ihr Warten ein Ende. Narendra Modi betritt die Bühne. Irgendwann, gegen Ende seiner Rede, wendet er sich auch den Frauen zu. "In dieser Stadt", verkündet er, "sind unsere Schwestern und Mütter nicht mehr sicher. Delhi hat einen miserablen Ruf. Wir werden das ändern!" Ein Versprechen, das auch der Kandidat der regierenden Kongresspartei, Rahul Gandhi, den knapp 400 Millionen wahlberechtigten Frauen zu geben versucht. Zum Beispiel, wenn er sich in Werbespots im Fernsehen betont zuhörend mit Frauen auf dem Land unterhält. Die neu gegründete Antikorruptionspartei, Aam Admi Party, widmet in ihrem Wahlprogramm gar ein Kapitel der Gender-Gerechtigkeit und hat, vor allem in den großen Städten, einige Kandidatinnen zur Wahl aufgestellt.
"Wir fordern Rechte für Frauen"
Fünf Wochen dauerten die Wahlen im Riesenstaat Indien, am 12. Mai gehen sie zu Ende. Beobachter des indischen Wahlkampfs in diesen Wochen und zuvor schütteln bei der Frage nach Frauenthemen nur den Kopf. Einer von ihnen ist Niranjan Sahoo von der Observer Research Foundation. Auch wenn die Parteien die mangelnde Sicherheit von Frauen ansprächen , heiße das nicht, dass viel ernste Absicht dahinter steckt: "Das ist schlichte Alibipolitik, was die Parteien da anbieten", meint er. "Man versucht, sich sensibel für Frauenfragen zu zeigen, stellt hier und da eine Kandidatin mehr auf, die aber meist aus einer einflussreichen Familie kommt und deswegen Aussichten auf eine politische Laufbahn erhält." Die Wahl werde definitiv von anderen Themen, allen voran Wirtschaftswachstum und Kampf gegen die Korruption bestimmt, so Sahoo. Dabei seien "Geld, Muskelkraft und Kastensystem nach wie vor die entscheidenden Faktoren, vor allem außerhalb der großen Städte."
Das bestätigt auch die Leiterin der Notrufzentrale in Delhi, Khadijah Faruqui. "Die Sicherheit für Frauen ist ein Modewort geworden. Doch das ist schon wieder ein Konzept der starken Männer, die meinen, die Frauen beschützen zu müssen. Was wir eigentlich fordern ist nicht Sicherheit, sondern die gleichen Rechte für uns Frauen", erklärt die Frauenrechtlerin.
Rama, die hinter ihr am Computer sitzt, nimmt erneut ein Telefongespräch entgegen. Nachdem sie auflegt, erklärt sie, dass sie sich für keine der Parteien entscheiden könne. Sie hoffe vor allem darauf, dass ihr Vertrag bei der Stadt Delhi auch ein weiteres Mal verlängert wird. Das ist nicht selbstverständlich. Immerhin stand das Vorzeigeprojekt erst Anfang des Jahres vor dem Aus. Erst nachdem ihre Chefin Khadijah einen öffentlichen Brief schrieb und die Medien informierte, lenkte die Stadt ein. Immerhin, offenbar kann sich die Politik - auch in Indien - solche Schlagzeilen nicht mehr leisten.