Was aus der EM-Euphorie geworden ist
20. Dezember 2022Alexandra Popp und die deutschen Vizeeuropameisterinnen landeten vor Lionel Messi und den argentinischen Weltmeistern - zumindest galt dies für das Fernsehpublikum in Deutschland. 17,9 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer verfolgten hierzulande Ende Juli das EM-Finale der Frauen zwischen England und Deutschland (2:1), es war damit das meistgeschaute Fußballspiel des Jahres. "Nur" 13,9 Millionen schalteten am vergangenen Sonntag das WM-Finale der Männer zwischen Argentinien und Frankreich (7:5 nach Elfmeterschießen) ein.
Das unterstreicht die Sommer-Euphorie um die Auftritte der Mannschaft von Martina Voss-Tecklenburg. "Wir bekommen immer noch viele Reaktionen, obwohl wir nicht Europameisterinnen geworden sind", sagte die Bundestrainerin dem Sport-Informations-Dienst. "Und das Schönste ist zu sehen, dass es nachhaltig ist, dass in den Stadien, bei den Vereinen, aber auch in den Köpfen der Menschen etwas passiert ist. Aber wir müssen dranbleiben."
Schon jetzt Rekordsaison
Von einem Boom im deutschen Frauenfußball zu sprechen, wäre verfrüht. Doch zweifellos geht es aufwärts. Das zeigt der Blick auf die Zahl der Zuschauenden in der Bundesliga. An den ersten zehn Spieltagen wurden 183.506 Fans gezählt, das macht einen Schnitt von 3058 pro Spiel. In der Saison 2021/22 - vor der Euro 2022 in England - hatte der Schnitt bei rund 800 Zuschauenden pro Partie gelegen. Bereits nach sieben Bundesliga-Spieltagen wurde die Gesamtzahl der Vorsaison (108.483) übertroffen, nach neun jene der Rekordsaison 2013/14 (156.355).
Double-Gewinner VfL Wolfsburg ist derzeit der Zuschauermagnet. Der Verein hat seinen Schnitt im Vergleich zur Vorsaison mehr als versechsfacht (7712 Zuschauende), andere Mannschaften wie Eintracht Frankfurt (5845) oder SC Freiburg (2918) verkaufen mehr als dreimal so viele Tickets wie zuvor. Bayer 04 Leverkusen (890) ist nach zehn Spieltagen der einzige Klub mit einem Schnitt unter 1000. Am Ende der vergangenen Spielzeit hatte das noch für neun der zwölf Bundesligisten gegolten.
Umzug in größere Stadien lohnt sich
Bewährt hat sich das Rezept, für Topspiele in die größeren Stadien der Männerteams umzuziehen. So lockte das Saisonauftaktspiel Eintracht Frankfurt gegen FC Bayern (0:0) 23.200 Zuschauende in die Frankfurter Arena - neuer Bundesliga-Rekord. 21.287 Fans wollten das Spitzenspiel der "Wölfinnen" gegen die Bayerinnen (2:1) sehen. 20.417 Besucherinnen und Besucher wurden bei der Partie Werder Bremen gegen den SC Freiburg (1:2) gezählt.
Selbst das DFB-Pokalspiel zwischen Zweitligist 1. FC Nürnberg und Titelverteidiger Wolfsburg (0:6) lockte 17.302 Fans ins Stadion - unter anderen hatten die Nürnberger Ultras kräftig die Werbetrommel für das Frauenteam des Vereins gerührt. Die in Deutschland verbreitete Skepsis bis hin zur Ablehnung der Männer-WM in Katar spielte dem Frauenfußball ebenfalls in die Karten. So forderte das Bündnis "Boycott Qatar 2022" gezielt dazu auf, Spiele der Fußballerinnen zu besuchen, anstatt im Fernsehen WM-Spiele der Männer zu verfolgen.
Erfolgreich auch in der Champions League
"Natürlich spielt das gerade eine Rolle, dass viele Fans der Männervereine sagen, sie wollen die WM-Spiele nicht schauen und sich gerne unseren attraktiven Fußball angucken", räumte Nationalspielerin Sara Doorsoon während der WM ein, stellte aber klar: "Unabhängig vom Katar-Boykott glaube ich, dass wir uns durch die Europameisterschaft diese Bühne erarbeitet und verdient haben."
Auch in der Champions League sind Deutschlands Fußballerinnen sportlich und in der Publikumsgunst auf der Erfolgsspur. So sahen 24.000 Fans in der Münchener Arena den 3:1-Erfolg des FC Bayern gegen das Starensemble des FC Barcelona. Die Münchenerinnen stehen schon vor dem sechsten und letzten Gruppenspieltag als Viertelfinalistinnen fest, ebenso die Wolfsburgerinnen in ihrer Gruppe.
"Über gute Leistung Begeisterung lostreten"
Bundestrainerin Voss-Tecklenburg sieht für den jüngsten Aufschwung des Frauenfußballs in Deutschland vor allem zwei Gründe: "Die Gesellschaft hat sich einerseits verändert, Themen wie Diversität, Gleichberechtigung, Diskriminierung sind viel öffentlicher geworden. Der andere Punkt ist die Sichtbarkeit. Man muss Interesse wecken, emotionalisieren."
Die nächste Gelegenheit dazu bietet sich 2023 bei der Weltmeisterschaft in Australien und Neuseeland. "Wir wollen weiter um Titel mitspielen. Dafür haben wir die Basis geschaffen", meint Voss-Tecklenburg. "Es wird bei der WM an uns liegen, über gute Leistungen wieder eine Welle der Begeisterung loszutreten." Vielleicht gelingt es dem DFB-Team ja dann erneut, für die höchste Einschaltquote des Jahres bei einem Fußball-Spiel zu sorgen.