Argentinien: Messi lässt Inflation vergessen
19. Dezember 2022Mitte November, die Fußball-WM in Katar hatte noch nicht begonnen und nur die kühnsten Optimisten glaubten an ein argentinisches Fußball-Märchen mit Happy-End, wurden die Argentinier gefragt, was hnen denn lieber sei: ein Triumph der "Albiceleste" mit Kapitän Lionel Messi oder ein Ende der Inflation, die in Argentinien im Oktober bei 88 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat lag? Die Teilnehmer der Umfrage mussten nicht lange überlegen: neun von zehn Argentiniern hätten ein Ende der Geldentwertung dem WM-Pokal vorgezogen.
Vielleicht würden einige von ihnen jetzt anders abstimmen, denn der Triumph in Katar lässt die Inflation zwar nicht verschwinden, aber zumindest für einige Tage vergessen. Wenn die WM-Helden von Katar mit ihrem besten Fußballspieler der Welt den goldenen Pokal in den Straßen von Buenos Aires in die Höhe halten, müssen die Menschen für kurze Zeit nicht darüber nachdenken, ob sie im Supermarkt in Raten zahlen, welches Shampoo sie am besten horten und ob es nicht vielleicht doch Sinn macht, das Auto zu verkaufen. Ihren Galgenhumor haben sie am Río de la Plata jedenfalls nicht verloren: in den sozialen Netzwerken kursiert die Frage, ob der goldene Pokal wegen der Inflation nicht längst nur noch silbern sei.
Tiefe Spaltung für eine kurze Zeit vergessen
Der Titel geht an ein Land, das nicht nur unter hohen Preisen ächzt und in dem fast jeder Zweite unter der Armutsgrenze lebt. Es ist auch ein Land, das gesellschaftlich tief gespalten ist zwischen Anhängern der Regierung um Präsident Alberto Fernández und seinem Vorgänger Mauricio Macri. Für einige Tage sind die Differenzen jedoch vergessen, das himmelblau-weiße Trikot streifen sich sowohl Anhänger als auch Gegner der Regierung über.
"Jetzt umarmen sie sich, weil niemand den anderen fragt, ob er 'Kirchnerista' oder 'Macrista' ist. Wenn gefeiert wird, geht es nicht um die soziale Klasse, nicht um das Geschlecht und auch nicht um Ideologien oder politische Positionen, "sagt Pablo Alabarces. In diesem Moment des Triumphes würden die Differenzen für einen Moment bei Seite geschoben.
Der Soziologe und Philosoph forscht über den Zusammenhang zwischen Fußball und Gesellschaft, sein Buch "Für Messi sterben? Der Fußball und die Erfindung der argentinischen Nation" ist zum Bestseller in den argentinischen Buchhandlungen geworden. Seine These: auch der "Messias" höchstpersönlich, ein Status, den Messi spätestens seit Sonntag in seiner Heimat innehat, kann dem Land nur eine kurze Verschnaufpause verschaffen. In Argentinien, seit Jahrzehnten auch Weltmeister im wirtschaftlichen Abstieg, folge nach den Feierlichkeiten garantiert der um so härtere Kater des Alltags. "Es gibt keinen anhaltenden positiven Effekt vom Fußball auf die Politik oder die Gesellschaft."
Militärjunta will mit WM 1978 im eigenen Land punkten
Dabei hatten die argentinischen Machthaber in der Vergangenheit alles Mögliche dafür getan, den Fußball zu instrumentalisieren und für sich zu nutzen. 1978 überreichte Juntachef Jorge Videla bei der Weltmeisterschaft im eigenen Land Kapitän Daniel Passarella den Pokal nach dem Finalsieg gegen die Niederlande. Die Militärs erhofften sich einen internationalen Imageschub, während sie gleichzeitig Oppositionelle entführten, folterten und bei lebendigem Leib über dem Atlantik aus Flugzeugen warfen.
Acht Jahre später sorgte Diego Armando Maradona dafür, das Trauma des verlorenen Falkland-Krieges von 1982 ein wenig zu heilen. Mit dem Jahrhunderttor und der "Hand Gottes" warf Argentinien im WM-Viertelfinale England aus dem Turnier. In den argentinischen Fankurven gehört der Konflikt um die Inselgruppe im Südatlantik bis heute zur Stadionfolklore. Auch in Katar sangen die Anhänger inbrünstig bei jedem der sieben Spiele: "Wer nicht hüpft, der ist ein Engländer."
"Der Fußball hat in Argentinien eine riesige Macht, und der WM-Titel 1986 hat uns schon geprägt", sagt Politikwissenschaftler Gustavo Marangoni, "aber alle Argentinier erinnern sich auch daran, dass Präsident Raúl Alfonsín zwar die Weltmeistermannschaft im Regierungspalast willkommen hieß, sich aber nicht mit ihr auf dem Balkon feiern ließ. Er wollte keinen politischen Vorteil aus dem sportlichen Erfolg ziehen."
Vizepräsidentin Kirchner polarisiert Gesellschaft
Auch dem ersten demokratisch gewählten Präsidenten nach der Militärdiktatur nutzte der WM-Triumph wenig, ein Jahr später verlor seine Partei die Zwischenwahlen, 1989 musste Alfonsín nach 15 Generalstreiks und Hyperinflation abdanken. Und heute? Zwei Monate bevor sich die "Albiceleste" gen Katar aufmachte, war Vizepräsidentin Cristina Kirchner Opfer eines Attentatsversuches geworden. Vor zwei Wochen wurde sie in einem Korruptionsverfahren zu sechs Jahren Haft verurteilt. Ihre Gegner feierten dies wie kurz zuvor den Sieg Argentiniens im Achtelfinale gegen Australien, Kirchners Anhänger dagegen witterten einen Komplott, Argentinien ist extrem polarisiert.
"Wir sind kein volles Jahr mehr vor den Präsidentschaftswahlen am 22.Oktober 2023, der Fußball wird nicht lange dafür sorgen, dass sich Argentinier unterschiedlicher Parteien gegenseitig in den Armen liegen. Auch während der WM gab es soziale Proteste vor den Türen des Arbeits- und Entwicklungsministeriums. Oscar Wilde hat einmal gesagt: Wenn wir glücklich sind, sind wir immer gut, aber dieser WM-Effekt wird nicht lange andauern", sagt Marangoni.
WM-Triumph tut gut für das Selbstbewusstsein
Aber zumindest haben Messi, Di Maria und De Paul für einige Wochen die argentinische Seele gestreichelt. Ein Balsam vor allem für die "Porteños", denen der Ruf vorauseilt, sich für etwas besseres zu halten als die Menschen in der Provinz und die anderen Südamerikaner sowieso. Gott ist Argentinier, sagen sie in Buenos Aires, der Papst ist es sowieso und jetzt haben sie nach Diego Armando Maradona mit Lionel Messi auch noch amtlich den weltbesten Fußballer des Planeten.
Politikwissenschaftler Gustavo Marangoni sagt: "Der Fußball zeigt uns Argentiniern, dass wir wettbewerbsfähig sind und dass wir auch die Großen schlagen können. Deswegen ist jede WM neben dem Sport auch immer wichtig für das argentinische Selbstwertgefühl. Wir können uns über Politik in die Haare kriegen, aber wenn die Nationalmannschaft spielt, sind wir alle Argentinier.”