Motor der Revolution
6. Dezember 2012"Ein falsches Wort und man wurde direkt eingebuchtet. Die Leute hatten Angst, über Politik zu reden oder Kritik über Husni Mubarak zu äußern. Sie waren sehr vorsichtig, eingeschüchtert und hatten Angst", erzählt Amin Saleh. Er ist in Ägypten aufgewachsen und dann nach Deutschland gekommen. Der 28-jährige Student hat inzwischen die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen, steht aber mit seiner Familie und seinen Freunden in Afrika noch eng in Kontakt.
Fußball sei in Ägypten fast wie eine Religion, berichtet er. Entweder man sei Moslem oder Christ, entweder sei man für Al-Ahly oder nicht. Al-Ahly ist eine Institution in Ägypten, bestätigt auch Jan Busse. Der Politikwissenschaftler arbeitet bei der Menschenrechtsorganisation Amnesty International und ist Experte für den Fußball in Ägypten. Historisch gesehen sei Al-Ahly ein Symbol des ägyptischen Volkes und genauso verstehe sich Al-Ahly auch: "Es war der erste Verein, der ausschließlich von und für Ägypter gegründet wurde und demnach wirklich ein nationales Symbol gegen die damalige britische Kolonialherrschaft und auch dann gegen die ägyptische Monarchie." Die Frage, ob man Al-Ahly-Fan ist oder Fan eines anderen Vereins, habe fast schon religiöse oder politische Bedeutung.
Thema Politik: Nur in der Moschee oder im Stadion
Fußball und Politik sind in Ägypten fest miteinander verbunden. Denn auf der Straße redete die letzten Jahre niemand offen über Politik. Dafür war nur Platz in der Moschee. Oder eben im Stadion. "Wenn eine Gesellschaft von Armut geprägt ist oder in der Zeit Mubaraks auch von Unterdrückung, dann war der Fußball immer ein Zufluchtsort, um der Emotion freien Lauf lassen zu können. Auch ein Ventil, um Frustration herauslassen zu können", vermutet Busse. "Ich denke, dass das in der Form fast nur im Fußball möglich ist."
Welche wichtige Rolle die ägyptische Ultra-Bewegung bei der Revolution spielte, erläutert Busse in seinen Vorträgen bei vielen Fanprojekten in Deutschland, unter anderem auch beim Sozialpädagogischen Fanprojekt des Zweitligisten 1. FC Köln. Ultras spielten seiner Meinung nach eine größere Rolle bei der Revolution als jede andere politische Gruppe. Sie hatten bereits Erfahrungen mit der Polizei und mit Straßenschlachten. Sie organisierten Barrikaden, die Versorgung der Verletzten und waren federführend bei den Demonstrationen am Tahrir-Platz in Kairo. "Im Gegensatz zu den meisten anderen Gruppen in Ägypten gehörten die Ultras zu den wenigen, die organisiert waren. Das ist sonst in diesem Ausmaß nur bei den Muslimbrüdern der Fall gewesen."
Ägyptische Fußballliga ruht
Selbst konkurrierende, ja sogar verfeindete Ultra-Gruppen vereinten sich und trommelten die Menschen zusammen, um gemeinsam gegen das Regime auf die Straße zu gehen. Wenn es wahr ist, was viele Beobachter und die Ultras selbst behaupten, dann zahlten sie dafür einen hohen Preis: Bei dem Fußballspiel zwischen Al-Ahly und Al-Masri kam es zu einer Katastrophe, manche nennen es auch das "Massaker von Port Said": Vermeintliche Anhänger von Al-Masri stürmten den Platz, griffen sogar die Spieler an. Augenzeugen berichten, sie seien brutal mit Stangen, Flaschen, Messern und sogar Schusswaffen vorgegangen. Die Polizei schritt nicht ein und so kamen 74 Menschen ums Leben, 1000 wurden verletzt. Die Tragödie hatte Folgen: Der Spielbetrieb ist seit Februar ausgesetzt, Al-Masri wurde für zwei Jahre gesperrt, es wurde ein Prozess einberufen. Doch der wurde immer wieder vertagt. Es gibt bislang keine neuen Erkenntnisse. "Die Ultras wollen Gerechtigkeit für die 74 Toten, die es gegeben hat. Und solange diese Gerechtigkeit nicht juristisch hergestellt ist, werden die Ultras auch weiterhin den Spielbetrieb der ägyptischen Liga boykottieren", so Busse.
Ägypten ist noch lang nicht am Ziel
Mittlerweile haben der ägyptische Sport- sowie der Innenminister angekündigt, dass der Ligabetrieb am 15. Dezember wieder aufgenommen werden soll. Busse vermutet, dass der Druck auf den ägyptischen Fußballverband durch diejenigen wächst, die finanziell vom Fußball profitieren, also Spieler, Fernsehsender, Unternehmen. Dieser Schritt ist nicht mit den Ultras von Al-Ahly abgestimmt. Es kann also damit gerechnet werden, dass die Ultras dagegen protestieren werden. "Die Ziele, die die Ultras öffentlich äußern, sind auf jeden Fall unterstützenswert", sagt Busse. "Es geht ihnen darum, Korruption im Fußball zu bekämpfen und eine juristische Aufarbeitung des Massakers von Port Said ist auf jeden Fall nachvollziehbar und wünschenswert."
Die Ultras haben viel Macht in Ägypten. Sie haben damit gedroht, Stadien zu stürmen und würden auch nicht davor Halt machen, erneut die Zentrale des ägyptischen Fußballballverbands zu stürmen. Auch bei den aktuellen Protesten gegen den neuen Regierungschef Mursi sind Ultras verschiedener Vereine beteiligt - unter anderem auch wieder auf dem Tahrir-Platz in Kairo, wo es zur offenen Konfrontation mit Polizei und Mursi-Anhängern kommt. Die Revolution ist noch lange nicht vorbei.
Auch Amin Saleh glaubt nicht daran, dass sich so schnell etwas ändert. Die Dinge brauchen ihre Zeit, sagt er. "Das dauert Jahrzehnte, mindestens 30 Jahre. Man muss das ägyptische Volk neu erziehen. Das Denken muss sich ändern. Was Ägypten braucht, ist Struktur und finanzielle Mittel auch für Bildung. Das Wichtigste ist erst mal, dass die Menschen Geld für Nahrung haben."
Denn egal, wer an der Macht ist: Die ägyptische Regierung hat viel zu tun: Es herrscht eine große Jugendarbeitslosigkeit, dazu gibt es sehr viel Armut und zahlreiche Analphabeten. Eine Situation, in der die ägyptische Führung mit sehr großen sozioökonomischen und demografischen Problemen konfrontiert ist.