Kontrollierter Tabubruch
9. März 2017Im Flecktarn steht Oberst Klaus Schirra vor den Journalisten im Landespolizeipräsidium Saarbrücken und teilt Ungeheuerliches mit: "Gestern ist es in Bayern, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und in Bremen zu Anschlägen gekommen, mit 54 Toten und mehr als 90 Verletzten". Im Saarland selbst droht ein Bombenanschlag in einer Schule – einer von 302 im ganzen Land. Der von Schirra beschriebene Albtraum ist glücklicherweise nur ein Übungsszenario. Das brisante Ziel der dreitägigen Übung: Die Zusammenarbeit von Polizei und Bundeswehr im Terrorfall proben. Die sogenannte GETEX-Übung (Gemeinsame Terrorismus-Abwehr Exercise) ist die erste ihrer Art. Weil sie, wie auch Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen zugibt, "vor Jahren noch undenkbar gewesen" wäre.
"Gegen Demokraten helfen nur Soldaten"
Undenkbar, weil das Grundgesetz sehr klar sagt: Die Bundeswehr ist ausschließlich für äußere Bedrohungen vorgesehen. Die Sicherheit im Inneren wird von der Polizei gewährleistet. Historische Erfahrung hat die Deutschen gelehrt: Der Einsatz von Militär im Inneren ist mit Gefahren für Demokratie und Freiheit verbunden. Schon die erste deutsche Revolution 1848 wurde von der preußischen Armee bekämpft. Dem damaligen General Gustav von Griesheim wird die Devise zugeschrieben: "Gegen Demokraten helfen nur Soldaten". Nach dem Ende des 1. Weltkrieges hat das Militär in der Weimarer Republik erneut auf das eigene Volk geschossen. Opfer waren diesmal Arbeiter- und Bauernräte sowie andere "Reichsfeinde".
Grundgesetz setzt enge Grenzen
Es sind diese geschichtlichen Erfahrungen, wegen denen das Grundgesetz den Einsatz der Bundeswehr im Inneren nur in sehr engen Grenzen zulässt, etwa bei "besonders schweren Unglücksfällen", wie Artikel 35 sagt. In der Praxis waren das bislang Naturkatastrophen wie etwa Überschwemmungen. 2012 allerdings hat das Bundesverfassungsgericht den Artikel 35 deutlich erweitert, erläutert der Staatsrechtler Joachim Wieland. "Es hat gesagt, ein schwerer Unglücksfall kann auch ein absichtlich herbeigeführter Unglücksfall sein - also wenn Terroristen einen Anschlag verüben. Die Unterstützung der Bundeswehr ist nicht erst dann zulässig, wenn bereits ein Schaden entstanden ist, sondern schon unmittelbar vorher zur Schadensabwehr", so Wieland im DW-Interview. Damit wurde GETEX rechtlich möglich.
Im Visier der Dschihadisten
Inzwischen steht Europa, steht auch Deutschland im Zielsprektrum des islamistischen Terrorismus. Die Anschläge in Paris, Brüssel und vom Berliner Breitscheidplatz sind der bedrückende Beleg. Für Aktualität sorgte Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen: Die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat habe Deutschland als Ziel für Anschläge "deutlich höher priorisiert", sagte Maaßen am Mittwoch in Berlin. Das islamistisch-terroristische Potenzial in Deutschland bezifferte der Verfassungsschutzchef auf 1600 Menschen. Das sind knapp dreimal so viele, wie die sonst genannten rund 560 bekannten sogenannten "Gefährder". Angesichts der seit Jahren als ernst eingestuften Bedrohungslage überrascht nicht, dass schon im August letzten Jahres 72% der Befragten einen Einsatz der Bundeswehr im Inneren zur Terrorabwehr befürworten.
"GETEX - ein historischer Moment "
Der saarländische Innenminister Klaus Bouillon, selbst Offizier der Reserve, konnte seinen Triumpf bei der Vorstellung der GETEX-Übung kaum verhehlen: "Jahrzehntelange Diskussionen, teilweise härteste Auseinandersetzungen sind beendet", freute sich Bouillon. Die GETEX-Übung bezeichnete der saarländische Innenminister als "historisch". Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen bekräftigte in Saarbrücken: "Es gibt viel, was wir in der Zusammenarbeit gemeinsam lernen müssen, wenn wir einer großen terroristischen Lage Herr werden wollen". Die saarländische Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer formulierte: "Terroristen arbeiten zusammen, kennen keine Grenzen. Deshalb muss auch die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden besser funktionieren, als das in der Vergangenheit der Fall war. Sie darf nicht scheitern an Zuständigkeitsgrenzen, sie darf nicht scheitern an föderalen Grenzen."
Polizeien von sechs Bundesländern waren bei GETEX involviert, dazu die Bundespolizei und die Bundeswehr. Soldaten oder auch Polizisten auf der Straße gab es bei der Übung nicht zu sehen – einzig bei den Terminen für Journalisten, als Futter für die Kameras. Denn GETEX war als Stabsrahmenübung angelegt: Kommunikationswege zwischen Einsatzkräften und Lagezentren sollten erprobt, Strukturen kennen gelernt werden. Und: Wie stellt die Polizei juristisch wasserfeste Anträge auf Unterstützung durch das Militär. Der Kern des Szenarios: Wegen der Fülle gleichzeitiger Angriffe kommt die Polizei an ihre Grenzen. Trotz rund 300.000 Polizisten bundesweit, trotz Sondereinsatzkommandos in jedem Bundesland reichen die Ressourcen nicht mehr aus: Die Bundeswehr soll mit ihren besonderen Fähigkeiten helfen. Für die sind, wie Verteidigungsministerin von der Leyen betonte, "Terror und Terroranschläge in den Auslandseinsätzen leider täglich Brot". Die Bundeswehr habe Erfahrung im Umgang mit Sprengstoffen, so die Verteidigungsministerin. Sie habe Sprengstoffspürhunde oder auch große Erfahrung mit Brand- und Schussverletzungen. "Das sind alles Erfahrungen, die hier sehr wertvoll sind", so von der Leyen.
Bei dem Szenario im Saarland zum Beispiel benötigt die Polizei ein gepanzertes Fahrzeug von der Bundeswehr. Die Verteidigungsministerin: "Es wäre für uns undenkbar, wenn die Polizei im Saarland einen Täter aufgreifen will, der droht, sich in die Luft zu sprengen. Dass dabei Polizisten ihr Leben riskieren müssten. Die geschützten Fahrzeuge der Bundeswehr aber stehen in der Kaserne nebenan und könnten nicht eingesetzt werden." Ursula von der Leyen betont zudem: "Entscheidend ist: Die Polizei hat immer die Federführung".
Weitere Übungen geplant
Ein halbes Jahr lang wurde GETEX vorbereitet. Schon bei dieser Vorbereitung haben sich Polizei und Bundeswehr besser kennen gelernt. Entsprechend positiv fällt das Fazit von Bundesinnenminister Thomas de Maizière aus: GETEX habe gezeigt, dass die Zusammenarbeit und die Kommunikationswege zwischen Bund und Ländern, zwischen Polizeibehörden und Bundeswehr gut funktionierten. Für die Zukunft hält de Maizière ähnliche Übungen für selbstverständlich und notwendig.
Berufssoldat Schirra reagiert auf Kritik am Einsatz der Bundeswehr im Inneren verärgert: "Mich als Soldat berührt es innerlich negativ, wenn in der Öffentlichkeit so getan wird, als wenn die Bundesrepublik Deutschland und die Bundeswehr zu vergleichen wären mit der Reichswehr und dem Kaiserreich und der unsäglichen Nazizeit. Ich persönlich würde nie einen Befehl ausführen, der rechtswidrig ist. Wenn ein rechtswidriger Befehl vorliegt, brauchen Soldaten ihn nicht auszuführen und dürfen wir ihn gar nicht ausführen," betont der Oberst im Flecktarn.