Giftgas auf Syriens Ghouta: "Wir werden nie vergessen"
20. August 2023Das Grauen, das sich in den frühen Morgenstunden des 21. August 2013 ereignet hat, ist vielen Syrerinnen und Syrern auch zehn Jahre später noch frisch im Gedächtnis. "Die meisten von uns waren wach, weil es einfach zu heiß zum Schlafen war", erinnert sich Alaa Makhzoumi, heute 30. "Wir waren auf unserem Dach und haben die Nacht dort verbracht."
Gegen 2.30 Uhr morgens wurde Ghouta, ein damals hauptsächlich von oppositionellen Kräften kontrolliertes Gebiet vor der syrischen Hauptstadt Damaskus, von einem der tödlichsten Chemiewaffen-Angriffe getroffen.
"Als wir Explosionen gehört haben, dachten wir, es handele sich um den üblichen Beschuss", erzählt Makhzoumi der DW. Ihr Mann, ein Arzt, verließ sofort das Haus, um nachzusehen, ob jemand Hilfe brauchte. "Doch dann wurden die verzweifelten Schreie auf der Straße lauter und uns fiel das Atmen immer schwerer." Sie versuchten, sich zu helfen, indem sie durch feuchte Tücher atmeten. "Wir hatten schon befürchtet, dass es sich um einen Angriff mit Chemiewaffen handeln könnte, und obwohl wir nichts davon wussten, blieben wir an den Fenstern."
Die Entscheidung, feuchte Tücher zu benutzen und nicht im Keller Schutz zu suchen, hat Alaa Makhzoumi und ihrem Mann wahrscheinlich das Leben gerettet. "Früher haben sich Familien vor den regelmäßigen Bombenangriffen im Keller versteckt, aber dieses Mal sind alle gestorben, die in den Keller gegangen sind", sagt Abd al-Rahman Saifiya, der in dieser Nacht als Sanitäter in Ost-Ghouta gearbeitet hat, im Gespräch mit der DW. "Viele Menschen sind gestorben, ohne zu wissen, mit welcher Art von Waffe sie getötet wurden."
Verschiedenen Untersuchungen und Quellen zufolge sollen zwischen 480 und 1500 Menschen, darunter viele Kinder, an den Folgen des Angriffs erstickt sein - manche von ihnen im Schlaf.
Fülle von Beweisen für Giftgasangriff dokumentiert
Einen Monat später hat die Untersuchung einer UN-Mission schließlich bestätigt, dass an jenem Tag im August Sarin eingesetzt wurde. Es zählt zu den giftigsten Kampfstoffen, die je hergestellt wurden. Und: Sarin ist schwerer als Luft und sinkt nach unten, weshalb so viele Menschen gestorben sind, die in den Kellern Schutz gesucht haben.
"Die von uns gesammelten ökologischen, chemischen und medizinischen Proben", heißt es in dem UN-Bericht, "haben klare und überzeugende Beweise dafür geliefert, dass Boden-Boden-Raketen mit dem Nervenkampfstoff Sarin eingesetzt wurden."
Der Sarin-Angriff fand statt, als der Syrien-Krieg schon zwei Jahre lang in vollem Gange war. Ein umfassender Bericht der internationalen Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch (HRW) kam zu dem Schluss, dass "die Beweise für die Art der Raketen und Abschussgeräte, die bei diesen Angriffen verwendet wurden, stark darauf hindeuten, dass es sich um Waffensysteme handelt, von denen bekannt und dokumentiert ist, dass sie nur im Besitz der syrischen Regierungsstreitkräfte sind und von diesen verwendet werden".
Der HRW-Bericht betont, dass syrische Oppositionskräfte nicht im Besitz der verwendeten "140mm- und 330mm-Raketen oder der dazugehörigen Abschussvorrichtungen waren". Syriens Machthaber Baschar al-Assad hat umgehend jede Anschuldigung zurückgewiesen. In einem Interview mit der staatlichen Nachrichtenagentur SANA sagte er: "Das würde gegen jede elementare Logik verstoßen."
Assad beschuldigt die Opposition
Stattdessen schob Assad die Schuld auf die Oppositionskräfte. Der damalige Informationsminister Omran al-Zoubi ging sogar so weit zu behaupten, dass "alles, was gesagt wurde, absurd, primitiv, unlogisch und erfunden ist", so SANA.
Doch an Beweisen mangelt es nicht. Mehrere Nichtregierungsorganisationen haben mittlerweile umfangreiche Datenbanken dazu angelegt. "Der Angriff auf Ghouta ist der bei weitem am besten dokumentierte und anschaulichste Vorfall, den das Syrian Archive je untersucht hat", sagt Libby McAvoy, Rechtsberaterin des Syrian Archive, einem Projekt, das Gräueltaten anhand von Open-Source-Materialien wie Social-Media-Inhalten festhält. "Fast 300 verschiedene Dokumente wurden praktisch in Echtzeit innerhalb der ersten 24 Stunden hochgeladen", sagt sie. "Das ist etwa die Hälfte von allem, was wir an Material gefunden haben, um diesen Angriff zu dokumentieren."
Auch das Syrian Network for Human Rights hat seit 2012 mindestens 222 chemische Angriffe in Syrien festgestellt - und das trotz eines seit 1925 bestehenden völkerrechtlichen Verbots von Chemiewaffen. Doch weder Assad noch seine russischen Verbündeten haben in den vergangenen zehn Jahren ihre Position geändert. Sie halten weiterhin an ihrer Version fest, dass die Opposition verantwortlich gewesen sei.
Keine Konsequenzen für die Täter
"Assad hat einen langen Atem. Er spielt ein Spiel. Er wartet ab, in der Hoffnung, dass die Welt die Rechenschaftspflicht irgendwann vergisst und ihn irgendwann als legitimen Anführer Syriens wieder in die internationale Gemeinschaft aufnimmt", sagt Lina Khatib, Direktorin des Londoner SOAS Middle East Institute in London.
Es sei von entscheidender Bedeutung, weiterhin daran zu arbeiten, Assad für seine brutalen Handlungen zur Rechenschaft zu ziehen, selbst wenn der politische Weg zu einem Friedensprozess ins Stocken geriete.
Im Moment scheine die Zeit Assad aber tatsächlich in die Hände zu spielen, so Kelly Petillo, Nahost-Forscherin beim European Council on Foreign Relations (ECFR). Trotz der mutmaßlichen Kriegsverbrechen, die Assad vorübergehend regional und international isoliert hatten, scheint Syriens Präsident langsam auch international wieder salonfähig zu werden. Erst kürzlich wurde er wieder in die Arabische Liga aufgenommen.
Wenn es niemand zur Rechenschaft gezogen wird, könnten sich die zahlreichen Gräueltaten in Syrien und anderswo wiederholen, befürchtet Laila Kiki. Sie ist Geschäftsführerin der in den USA ansässigen Nichtregierungsorganisation The Syria Campaign, einer Gruppe, die lokale Aktivisten unterstützt.
Zehn Jahre sind seit dem Chemiewaffen-Angriff auf Ghouta vergangen. Für die Überlebende Alaa Makhzoumi haben diese Jahre ihren Schmerz und ihr Trauma nicht gelindert. Sie lebt mittlerweile mit ihrer Familie in der Türkei, aber sie sagt: "Wir werden die Bilder der sterbenden Kinder nie vergessen."
Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.
Mitarbeit: Omar Albam, Idlib / Syrien