Wie wird Stahl wirklich "grün"?
10. Juni 2022Stahl ist ein preiswertes, starkes und haltbares Metall und überall zu finden: in Häusern, Autos oder auch Spülbecken. Und er ist auch ein wesentlicher Baustoff für Windturbinen und Strommasten, die für die Energiewende gebraucht werden, um die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu überwinden. "Stahl ist so etwas wie das Lebenselixier der Wirtschaft. Er durchdringt jeden Sektor", sagt Gauri Khandekar, Wissenschaftlerin an der Freien Universität Brüssel, die sich mit der Dekarbonisierung der Schwerindustrie beschäftigt.
Doch Stahl ist nicht nur der Baustoff für die Energiewende, sondern gleichzeitig auch Treiber des Klimawandels. Denn bei der Herstellung des Metalls entstehen viele Treibhausgase. Die Stahlindustrie ist für sieben bis neun Prozent der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich, die unsere Erde aufheizen, Hitzewellen verstärken und Wirbelstürme und Starkregenfälle begünstigen.
2020: entscheidendes Jahrzehnt für die Stahl-Dekarbonisierung
Die Stahlerzeugung ist deshalb so problematisch, weil zunächst Eisenerz in Hochöfen mit enormem Energieaufwand erhitzt werden muss, um reines Eisen und damit den Grundstoff für die Stahlproduktion zu gewinnen. Bei der chemischen Reaktion in den Hochöfen wird Kohlendioxid (CO2) freigesetzt. Etwa 75 Prozent des Stahls werden auf diese Weise hergestellt - meistens mit Kohle, dem schmutzigsten aller fossilen Brennstoffe - in Öfen, die 15 bis 20 Jahre lang in Betrieb sind, bevor sie stillgelegt oder teuer repariert werden müssen.
Nach Angaben der Internationalen Energieagentur (IEA) wird die Nachfrage nach Stahl bis 2050 um rund ein Drittel steigen. Analysen zufolge entscheiden die heute getroffenen Entscheidungen für die künftige Stahlproduktion darüber, ob die Ziele des Pariser Klimaabkommens eingehalten werden können, oder nicht.
"Die 2020er Jahre sind in dieser Hinsicht ein sehr kritisches Jahrzehnt, da mehr als 70 Prozent aller Hochöfen das Ende ihrer Lebensdauer erreichen, und Entscheidungen über Reinvestitionen nötig werden", so Wido Witecka, Stahlexperte bei der deutschen Klimaschutz-Denkfabrik Agora Energiewende.
Doch im Gegensatz zu Sektoren wie der Energiewirtschaft und der Landwirtschaft, wo saubere Technologien wie Solarzellen und aus Pflanzen gewonnener Fleischersatz billig und leicht zu skalieren sind, befinden sich die meisten vielversprechenden Alternativen für die Schwerindustrie derzeit noch in der Entwicklung. Viele von ihnen sind mit logistischen Herausforderungen verbunden, die von der Politik nur zögerlich angegangen werden.
"Grüner" Wasserstoff aus Ökostrom statt Kohle und Gas
Eine Lösung, Stahl nachhaltiger zu produzieren, könnte darin bestehen, kohlebefeuerte Hochöfen abzuschaffen. Stahlhersteller können Eisen gewinnen, indem sie stattdessen Eisenerz mit Gas reagieren lassen. Bei dieser sogenannten Direktreduktion wird dem Eisenerz der Sauerstoff entzogen und es entsteht eine stark eisenhaltige Masse, Eisenschwamm genannt. Dieser wird anschließend in einem sogenannten Lichtbogen-Ofen, welcher mit Strom aus erneuerbaren Energien betrieben werden kann, zu Rohstahl verarbeitet.
Wird für diesen ersten Schritt Erdgas verwendet, ist das bereits etwas sauberer als die herkömmliche Hochofentechnologie, bei der das Erz unter Verwendung von Kohle geschmolzen wird. Doch da auch Erdgas die Atmosphäre verschmutzt und so die Erde aufheizt, ist diese Lösung noch nicht wirklich nachhaltig.
Europäische Hersteller wie SSAB und ThyssenKrupp setzen daher auf Anlagen, die mit Wasserstoff betrieben werden können. Wasserstoff lässt sich mit erneuerbarer Energie herstellen und emittiert bei seiner Verwendung keine Treibhausgase. Und auch der Sauerstoff im Eisenerz reagiert mit dem Wasserstoff zu Wasser statt zu klimaschädlichem Kohlendioxid. "Das Schöne an diesem Konzept ist, dass man zwar einen neuen Produktionsprozess braucht, aber als Nebenprodukt Wasser anstelle von Kohlendioxid erhält", so Witecka.
Letztes Jahr gab SSAB bekannt, eine erste Charge fossilfreien Stahls an den Automobilhersteller Volvo geliefert zu haben, der damit ein Lastfahrzeug baute.
Das Problem: Für diese Art der Stahlproduktion werden enorme Mengen an klimaneutralem Wasserstoff benötigt, und die grüne Energie, die wiederum nötig ist, um diesen zu erzeugen, könnte in anderen Sektoren fehlen. Um den gesamten europäischen Stahl mit Wasserstoff aus erneuerbaren Energien herzustellen, wären laut einer aktuellen Studie 340 Terawattstunden (TWh) Ökostrom erforderlich. Im vergangenen Jahr erzeugten die Windturbinen in der EU insgesamt aber lediglich 437 TWh Strom. Für andere Branchen bliebe also nicht mehr sehr viel Ökostrom übrig.
"Eine der großen Fragen wird sein, wo wir diese Wasserstoffproduktionsanlagen bauen", betont Caitlin Swalec, Stahl-Expertin bei der gemeinnützigen US-amerikanischen Organisation Global Energy Monitor. "Es muss dort geschehen, wo die Kapazitäten für erneuerbare Energien vorhanden sind."
Nachhaltiger Stahl durch CO2-Speicherung?
Eine weitere Option für die Stahlindustrie wäre die Abscheidung von Kohlenstoffdioxid aus den Stahlwerken und seine anschließende unterirdische Lagerung. Bei der Technologie der Kohlenstoffabscheidung und -speicherung (CCS) wird das CO2 aufgefangen, bevor es in die Atmosphäre gelangen kann.
Es ist jedoch unklar, wie viele Emissionen aus der Stahlproduktion tatsächlich per CCS aufgefangen werden können - und zu welchen Kosten. Das Verfahren dürfte hier deutlich teurer werden als in anderen Branchen, wie etwa der Zementindustrie, da Stahlwerke gleich mehrere Emissionsquellen haben.
Dennoch geht die IEA in ihrem Fahrplan zur Erreichung des Pariser 1,5-Grad-Ziels davon aus, dass die Kohlenstoffabscheidung bis 2050 die Hälfte der gesamten Stahlproduktion abdecken wird. Dadurch würde Wasserstoff frei, der in anderen Bereichen, etwa in der Schifffahrt oder bei der Produktion von Düngemitteln, als Ersatz für fossile Rohstoffe eingesetzt werden könnte.
Um dieses Ziel zu erreichen, so die Meinung von Fachleuten, müssten die politischen Entscheidungsträger mehr Anreize für die Entwicklung von CCS schaffen, etwa indem sie die Emissionen stärker besteuern, die bei den bislang üblichen Produktionsmethoden entstehen. Auf diesem Wege würden herkömmlich erzeugte Produkte zudem die tatsächlich anfallenden Kosten der Umweltbelastung widerspiegeln. Außerdem müssten Forschungs- und Pilotprojekte finanziert werden, um die Abscheidungsraten zu erhöhen.
Einer der Gründe, warum es so wenige Antworten über die Skalierbarkeit der CO2-Abscheidungstechnologie im Stahlbereich gebe, sei die Tatsache, "dass die Stahlunternehmen ihre Emissionen noch nicht wirklich reduzieren mussten", erklärt Eadbhard Pernot von der Clean Air Task Force, einer der wenigen Umweltorganisationen, die mehr Investitionen in die CCS-Technologie fordern.
So wird Stahl wirklich "grün": Verbrauch senken, Recycling steigern
Ohne einen massiven Ausbau der CCS-Technologie könnten die Stahlhersteller an den Hochöfen festhalten, die von ihnen verfeuerte Kohle würde weiterhin die Atmosphäre verschmutzen. Und ohne ausreichend grünen Wasserstoff dürfte die Eisengewinnung per Direktreduktion weiterhin mit Erdgas betrieben werden. "Das ist ein ziemlich großes Risiko", mahnt Gauri Khandekar von der Universität Brüssel. "Man kann die Unternehmen nicht mit ihren Entscheidungen allein lassen."
Um mehr Zeit zu gewinnen, könnte mehr Stahl recycelt werden. Derzeit wird etwas mehr als ein Viertel der Stahlmenge aus recyceltem Altmetall hergestellt. Zwar gibt es Grenzen dafür, wie oft Stahl wiederverwertet werden kann. So können sich beim Recycling Verunreinigungen durch Nickel oder Kupfer einschleichen - der Stahl wird dadurch weniger haltbar. Dennoch würde eine höhere Recyclingrate die Menge an Roheisen reduzieren, das neu produziert werden muss - und die dabei entstehenden Treibhausgase.
Laut IEA könnte auch eine effizientere Nutzung von Stahl die Nachfrage bis 2050 um 20 Prozent senken. So könnten etwa bei öffentlichen Bauprojekten Obergrenzen für den Einsatz von Stahl festgeschrieben, Infrastruktur länger instand gehalten und nationale Bauvorschriften so aktualisiert werden, dass weniger verschwenderisch mit dem kostbaren Baustoff umgegangen wird. Auch könnte Autoherstellern vorgeschrieben werden, leichtere Autos anstelle schwerer SUVs zu bauen.
"Wir werden nicht völlig [vom Stahl] loskommen und wir werden nie hundertprozentige Recyclingraten erreichen", meint Caitlin Swalec von Global Energy Monitor. "Aber wir können auf jeden Fall viel besser mit ihm umgehen."
Adaption aus dem Englischen: Jeannette Cwienk