Indien öffnet Einzelhandels-Sektor
7. Dezember 2012Der 80-jährige Manmohan Singh hat die vielleicht schwersten Herausforderung seiner politischen Karriere gemeistert. Das indische Parlament stimmte den Regierungsplänen für ein äußerst kontroverses Thema zu: Ausländische Unternehmen dürfen sich künftig mit bis zu 51 Prozent an indischen Supermarktketten beteiligen.
Das Thema ist komplex und es geht der Regierung und der Opposition um vieles. Seit mehr als einem Jahr tobt in Indien eine Art Glaubenskrieg um die Frage, ob Indien seinen milliardenschweren Markt für ausländische Supermärkte öffnen soll oder nicht. Die Regierung hatte dies im September im Alleingang beschlossen. Ihr Argument: Mehr Auswahl für die Konsumenten, die Schaffung von Arbeitsplätzen vor allem in ländlichen Regionen und ein klares Signal an ausländische Investoren, dass Indien ein attraktiver Standort ist. Dennoch stieß der Kabinettbeschluss auf heftigen Widerstand. Indiens Handelsminister Anand Sharma versuchte in den vergangenen Wochen, die Gemüter zu beruhigen: "Indien ist eine föderale Nation. Die Bundesstaaten, die keine ausländischen Supermarktketten zulassen wollen, können dies gerne tun. Es ist ihre Entscheidung, die wir als Regierung anerkennen."
Trotzdem legte die Opposition in den letzten Wochen das Parlament mit Sitzstreiks, Demonstrationen und lautstarken Protesten lahm und erzwang so die nun anstehende Abstimmung, die eher symbolische Bedeutung hat. Denn der Gesetzentwurf könnte auch gegen den Willen der Opposition verabschiedet werden. Oppositionsführerin Sushma Swaraj von der Bharatiya Janata Partei (BJP) bezeichnete die geplante Öffnung des Einzelhandelssektors als "den größten Fehler, den Indien machen kann". Kein Unternehmen würde Kompromisse machen, wenn es darum gehe, Produkte zu einem billigeren Preise anzubieten, so Swaraj: "Und um die eigene Gewinnspanne zu erhöhen, werden sie unsere Bauern ausquetschen." Die Zahl derjenigen, die ihren Lebensunterhalt verlieren würden, wäre um ein Vielfaches höher, als die Zahl derjenigen, die von dieser Entscheidung profitieren würden, rechnet die Opposition vor.
Geplante Revolution
Bisher wird in Indien nur ein Prozent aller Lebensmittel überhaupt in Supermärkten ge- und verkauft. Selbst in Megastädten wie Neu Delhi, Mumbai oder Kolkata kaufen die Menschen lieber beim Händler ihres Vertrauens oder auf dem Markt ein. Die Inder schätzen den Plausch, wollen nicht anonym einkaufen. Doch den brutalen Wettkampf um Dumping-Preise oder das reichhaltigere Angebot werden die kleinen Händler wohl nicht gewinnen können. Sie bieten oft nur so viel Waren an, wie sie an einem Tag verkaufen können. Es fehlen ihnen die Kühlsysteme.
Nach der Landwirtschaft ist der Einzelhandel in seiner typisch indisch, unorganisiert anmutenden Form der größte Arbeitgeber. 20 Millionen Menschen sind nach Schätzungen im Einzelhandel tätig, es können aber auch viel mehr sein. Vivan Sharan von der Observer Research Foundation, einer politischen Denkfabrik in Delhi, sieht die Öffnung des Marktes für ausländische Ketten skeptisch: "Natürlich wird das Angebot durch Ketten wie Wal-Mart viel größer sein. Eine neue Effizienz wird zu sehen sein. Doch es ist ganz klar: es wird einfach nicht mehr so viele Arbeitsplätze in diesem Sektor geben wie jetzt."
Riesiger Markt
Indien mit seiner rasant wachsenden, konsumfreudigen Mittelschicht ist ein riesiger Wachstumsmarkt für internationale Supermarktriesen wie Tesco, Ikea, Carrefour und Wal-Mart. Mit mehr als zwei Millionen Beschäftigten weltweit und einem Umsatz von 450 Milliarden US-Dollar plant Wal-Mart bereits seit einiger Zeit seinen Einstieg in Indien und kündigte jüngst an, nach der Zustimmung des Parlaments "in etwa 12 bis 18 Monaten" den ersten Supermarkt in Indien eröffnen zu wollen.
Die Regierung hat zwar im Unterhaus eine Mehrheit, ist aber im Oberhaus auf die Hilfe von Verbündeten angewiesen. In Indien, der größten Demokratie der Welt, soll erst 2014 gewählt werden. Doch Premierminister Singh ist wegen steigender Inflation, zahlreicher Korruptionsskandale und verlangsamten Wirtschaftswachstums schwer angeschlagen. Ein erneutes Scheitern wäre eine Katastrophe für den inzwischen als führungsschwach geltenden Regierungschef. Viele Reformen hatte der Wirtschaftsfachmann Singh 2004 zu Beginn seiner ersten Amtszeit versprochen. Kaum etwas davon konnte er bis heute, acht Jahre später, umsetzen. Seit Monaten spekulieren die Medien schon über vorgezogene Neuwahlen.
Zwar muss die Regierung die Abstimmung nicht unbedingt gewinnen, will aber mit einem Abstimmungssieg ein Zeichen setzen. Schließlich sollen vor den nächsten Wahlen noch weitere Reformen im Versicherungs- und Rentensektor auf den Weg gebracht werden. Um dies zu tun, braucht Singh die Unterstützung der kleineren Parteien innerhalb und außerhalb der Regierungskoalition.