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5. Mai 2012Am Morgen sind die Straßen leer in Breda, nur einige Ladenbesitzer beginnen, ihre Fassaden mit der niederländischen Flagge zu schmücken. Ob es in Ordnung ist, dass Joachim Gauck heute kommt? Einer winkt ab – kein Kommentar. Jürgen Reiter, ein anderer Restaurantbesitzer, nimmt Stellung: "Meines Erachtens ist das merkwürdig. So viele Menschen sind damals gestorben, und jetzt kommt ein deutscher Politiker und feiert diesen besonderen Tag."
"Nach vorn schauen, nicht zurück"
Lago Picard, der gerade sein Geschäft für Elektronik-Bedarf öffnet, sieht das anders: "Nur ein kleiner Teil der Deutschen wollte den Krieg damals, der Großteil wollte ihn nicht. Es ist super, dass Gauck heute da ist." Eine ältere Dame stimmt zu: Sie sei selbst Kriegskind, der Befreiungstag bedeute ihr sehr viel. Trotzdem freut es sie, dass ein deutscher Bundespräsident an diesem Tag in Breda die Rede hält: "Die heutige Generation kann nichts dafür. Man soll nicht zurück, sondern muss nach vorne schauen - und Frieden schaffen mit allen."
In der großen Kirche von Breda haben sich einige hundert Menschen versammelt. Sie verfolgen die Filme, in denen Zeitzeugen aus dem Zweiten Weltkrieg von ihrem persönlichen Erlebnis der Befreiung berichteten; aber auch andere, Zeugen der arabischen Revolution oder aus Südafrika. Durchaus gerührt verfolgt auch der deutsche Bundespräsident die filmischen, tänzerischen und musikalischen Darbietungen.
Keine Selbstverständlichkeit
In seiner Rede greift Gauck dann als Erstes die Frage auf, ob ein Deutscher an diesem Tag in den Niederlanden eine Rede halten soll: "Ich bin im Jahre 1940 geboren, dem Jahr, in dem die Niederlande Opfer der deutschen Großmachtpolitik und des deutschen Rassenwahns wurden. Es ist für einen Deutschen - und ganz gewiss für mich - nicht selbstverständlich, dass ich heute hier bei Ihnen stehen und gar zu Ihnen sprechen darf." Man feiere gemeinsam die Befreiung vom nationalsozialistischen Joch, so Gauck weiter. Und man fühle mit allen, die gerade heute in anderen Teilen der Welt die Freiheit entdecken oder wieder entdecken.
Gauck spricht über die Opfer der Deutschen in den Niederlanden, wie die mehr als 100.000 niederländischen Juden. Er hebt einzelne bemerkenswerte Ereignisse heraus, wie den Generalstreik in Nordholland im Februar 1941: "Mit ungläubigem Staunen und großer Bewunderung habe ich gelesen, dass Geschäfte geschlossen blieben, Arbeiter in Werften und Fabriken die Arbeit niederlegten und Schüler dem Unterricht fern blieben, um dem Streikaufruf der illegalen Kommunistischen Partei der Niederlande zu folgen – aus Protest gegen die Verschleppung der ersten 400 Juden aus den Niederlanden ins KZ Mauthausen." Solche Vorbilder seien wichtig, sagt er, "für die Völker, aus denen die Widerständigen stammen, und für andere Menschen angesichts anderer Herausforderungen und Krisensituationen".
Widerstandskämpfer als Beispiel
Gauck skizziert die Schicksale einiger in den Niederlanden berühmter Widerstandskämpfer. Menschen, die anderen geholfen und ihren Kampf gegen die Nazis mit dem Leben bezahlt haben: Diese Menschen hätten gezeigt, dass man immer eine Wahl habe. "In Zeiten von Krieg und Terror zwar nicht jede Wahl, aber selbst unter diesen Bedingungen können Menschen - wie die Geschichte lehrt – die menschliche Würde, das Humanum retten." Gauck lobt den Freiheitsbegriff der Niederlande als einen Grundstein für die europäische Geschichte: "In unserem gemeinsamen Projekt Europa ist es keine innere Angelegenheit der einzelnen Staaten mehr, wenn Länder Freiheiten beschneiden und die Grundrechte ihrer Bürger missachten."
Manchmal doch ein Minenfeld?
Die Europäer könnten stolz auf die Möglichkeit sein, sich bei Rechtsverletzungen an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag wenden zu können: "Die Stärke des Rechts muss weltweit über das Recht des Stärkeren triumphieren." Das wäre vielleicht die Stelle gewesen, an der Joachim Gauck auf die Angelegenheit Claas Karel Faber hätte eingehen können. Im Vorfeld des Besuchs hatte unter anderem das Internationale Dachau-Komitee gegen Gaucks Anwesenheit am Befreiungstag protestiert. Deutschland liefert seit Jahrzehnten den in den Niederlanden verurteilten und dann nach Deutschland geflohenen Kriegsverbrecher Klaas Carel Faber nicht aus. "Eine Schande", nennt Pieter Dietz de Loos, Vorsitzender des Komitees, die juristischen Querelen um den mittlerweile 90-Jährigen, der ausgerechnet aus dem Gefängnis der Stadt Breda geflohen war. Doch in seiner Rede nimmt Gauck nicht Stellung, weicht nicht vom Manuskript ab. Vielleicht ist in diesem Fall das deutsch-niederländische Verhältnis noch immer ein kleines Minenfeld, wie ein deutscher Journalist in den 1950er Jahren einmal sagte.
Auch später im Interview mit dem Deutschen Fernsehen bleibt Gauck zurückhaltend: Er sei als Bundespräsident an die deutsche Rechtsordnung gebunden, hoffe aber, an diesem Vertrauen geweckt zu haben: "In Deutschland hat man kein Interesse daran, Verbrecher zu schützen." Er verwies darauf, dass es auch seitens der deutschen Justizministerin Bestrebungen gäbe, sich des Falles wieder anzunehmen.
Für den niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte ist es sehr wichtig, dass 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ein deutscher Bundespräsident am Befreiungstag spricht. "Gerade dieser Bundespräsident mit seiner Geschichte – das hat eine besondere Bedeutung", so Rutte.
Und auch die Besucher der Großen Kirche von Breda ziehen eine positive Bilanz des Besuchs. "Sehr eindrucksvoll", sagt ein älterer Herr. Nein, ihm habe nichts gefehlt, es sei eine ausgezeichnete Rede gewesen, sagt ein anderer. Und Wilhelm Wielandseck, der bei der Befreiung Bredas dabei war und jetzt die Rede vom Rollstuhl aus verfolgt, findet Gaucks Auftritt ebenfalls angemessen. "Ich bin glücklich, dass ich an diesem Tag hier sein durfte", sagt der 96-Jährige schmunzelnd.