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Heimliche Freiheit

Jan Aengenvoort27. Mai 2014

Die Facebook-Seite "Azadiye jawaschaki" zeigt erneut die Macht der sozialen Netzwerke. Anfang Mai stellte die Journalistin Masih Alinejad ein Foto von sich online. Was folgte, gleicht einer virtuellen Massenbewegung.

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Masih Alinejad am Steuer ihres Autos
Bild: Facebook/Masih Alinejad

Masih Alinejad sitzt hinter dem Steuer ihres Autos und fährt durch eine iranische Stadt. Ohne Hidschab, also ohne die im Iran vorgeschriebene Verschleierung für Frauen. Heute haben über 370.000 Menschen ihre Facebook-Seite "Azadiye jawaschaki" ("Heimliche Freiheit") geliked. Doch nicht nur das – mehr als hundert Iranerinnen haben Fotos an Masih Alinejad geschickt, auf denen sie ohne Hijab in der Öffentlichkeit zu sehen sind. Sie protestieren damit gegen die Zwangsverschleierung und sie möchten, dass die ganze Welt ihren Protest sieht.

"Die Seite ist eine Plattform für iranische Frauen, auf der sie der Welt zeigen können, wie sie wirklich sind", erklärt Masih Alinejad im Gespräch mit der Deutschen Welle. In kurzen Texten erklären die Frauen, deren Namen nicht genannt werden, ihren kurzen Moment der heimlichen Freiheit. Eine junge Frau ist ohne Kopftuch in den Bergen zu sehen. Sie schreibt an die seit einigen Jahren in London lebende Masih Alinejad: "Die Berge verstecken sich nie unter einer Decke. Wenn ich in den Bergen klettern gehe, verstecke ich mich also auch nicht unter einer Decke." Eine andere Frau schreibt unter ihr Foto, das sie auf einer Sanddüne in der Wüste zeigt: "Ich habe schon lange auf eine solche Bewegung gewartet und ich hoffe, dass diese Freiheiten schon bald nicht mehr heimlich sein werden."

My Stealthy Freedom Facebook
Eine junge Iranerin lässt sich ohne Kopftuch für die Facebook-Seite “Heimliche Freiheit“ fotografierenBild: Facebook/My Stealthy Freedom

Aber ist es überhaupt noch eine heimliche Freiheit, wenn die ganze Welt zuschaut? Die Veröffentlichung von heimlich aufgenommenen Fotos auf einer Facebook-Seite erscheint zwar paradox, spiegelt aber in vielerlei Hinsicht die Situation im Iran wider. Während sich viele Iranerinnen in den eigenen vier Wänden schon seit langer Zeit einen Rückzugsraum geschaffen haben, in dem sie sich frei bewegen, ist die Situation im öffentlichen Raum schwieriger. Dort herrscht nach wie vor die Zwangsverschleierung.

"Mit den sozialen Medien können Iraner die Barriere zwischen privatem und öffentlichem Leben aufbrechen", sagt Alinejad. Von einem Wegfall der strengen Sittengesetze kann jedoch keine Rede sein. Dies wurde erst vor kurzem deutlich, als sechs Bewohnerinnen und Bewohner von Teheran verhaftet wurden, weil sie ein Video auf Youtube veröffentlicht hatten, in dem sie zum Song "Happy" des amerikanischen Sängers Pharrell Williams tanzten – die Tänzerinnen waren darin ohne Kopfbedeckung zu sehen. Inzwischen sind sie gegen Kaution wieder auf freiem Fuß. "Am Tag nach ihrer Freilassung hat eine der verhafteten Frauen ein Foto von sich online gestellt – ohne Kopftuch", betont Alinejad.

Der Schneeballeffekt der sozialen Medien

So paradox es klingt: Das Ablegen des Kopftuchs in der iranischen Öffentlichkeit ist definitiv nicht erlaubt, aber auch nicht mehr ganz verboten. Facebook bietet hier den idealen virtuellen Raum, um die schwammigen und sich ständig verschiebenden Grenzen auszutesten. Manche Frauen lassen sich nur von hinten fotografieren, die meisten anderen mit einer Sonnenbrille an kaum frequentierten öffentlichen Orten, einige wenige aber auch in der Metro oder sogar auf dem zentralen Freiheitsplatz von Teheran. Doch bietet Facebook nicht nur eine Art sicheren Raum, in dem die Identität der Frauen geschützter erscheint als auf der Straße, wo sie jeden Moment mit einer Kontrolle durch die Sittenwächter zu rechnen haben. Facebook macht es möglicht, sich mit Gleichgesinnten zusammen zu tun, die Reaktionen auf das eigene Verhalten zu testen und natürlich zu diskutieren.

My Stealthy Freedom Teheran Vogelpark
Manche Unterstützer der Seite protestieren an öffentlichen Orten gegen den Kopftuchzwang – hier im Teheraner VogelparkBild: Facebook/My Stealthy Freedom

Und es wird viel diskutiert bei der "Heimlichen Freiheit". Es gebe größere Probleme für iranische Frauen als den Kopftuchzwang, sagen manche. Andere Nutzer fragen sich, ob eine heimliche Freiheit nicht ein Widerspruch sei. "Genau diese Diskussionen wollte ich als Journalistin ermöglichen", erklärt Alinejad. "Die 'Heimliche Freiheit' ist ein Ort, an dem Iranerinnen und Iraner mit durchaus unterschiedlichen Meinungen zusammentreffen und öffentlich darüber reden, was sie im Privaten denken, fühlen und auch tun. Sie müssen keine Zensur fürchten wie in der iranischen Öffentlichkeit. Das macht sie mutig, weil sie sehen, dass sie nicht alleine sind mit ihren Gedanken und Handlungen."

My Stealthy Freedom Facebook EINSCHRÄNKUNG
Die Seite ist kein Protest gegen den Schleier, nur gegen den Zwang, ihn zu tragenBild: Facebook/My Stealthy Freedom

Rasanter Zuwachs

Sicher ist, dass die sozialen Netzwerke den Protest gegen die Zwangsverschleierung beschleunigen. Die Seite "Heimliche Freiheit" gewinnt fast 10.000 Unterstützer pro Tag – ein Schneeballeffekt hat eingesetzt. Dies ist erstaunlich für ein Land, in dem der Zugang zum Internet im Allgemeinen und zu sozialen Netzwerken im Besonderen durch die Regierung eingeschränkt wird.

Die Folgen dieser Entwicklung beschränken sich nicht nur auf die virtuellen Welten des Internets. Laut einem Bericht von Euronews protestierten schon vor Wochen mehrere hundert Unterstützer der Zwangsverschleierung in Teheran gegen die Nichtbeachtung der Kleidervorschriften, wie sie auf der Facebook-Seite von Masih Alinejad und im Teheraner "Happy"-Video sichtbar wurde. Auch Präsident Rouhani hat sich inzwischen zu der Thematik geäußert. "Das Glück (Happiness) ist das Recht unseres Volkes. Wir sollten nicht zu streng sein gegenüber einem Verhalten, das durch Freude hervorgerufen wurde." Wo der Präsident dies gesagt hat? Auf Twitter…