Aktionskünstler Hermann Nitsch ist tot
19. April 2022Manchmal rückte sogar die Polizei an, um die blutigen Aktionen von Hermann Nitsch zu beenden. So wie 1966 in London beim "Destruction in Art Symposion". Damals machte sich der Österreicher international einen Namen, doch bis zuletzt polarisierte Hermann Nitsch mit seinen Bühnenhappenings. Er fesselte Menschen nackt mit verbundenen Augen an ein Holzkreuz und rieb sie mit Tierkadavern und Gedärmen ein. Dabei flößte er ihnen immer wieder Blut ein, eine Blasmusikkapelle spielte dazu düstere Töne. Die Bilder der archaischen Aktionen des österreichischen Künstlers sind nur schwer wieder aus dem Kopf zu bekommen. Der Wiener wurde für seine extremen Rituale sowohl verehrt als auch bekämpft.
Nitsch wollte "Ekelschranken überwinden"
Kunst schaffen bedeutete für Nitsch Intensität und Erlebnisse für alle Sinne. Dafür war dem Maler mit dem weißen Rauschebart nahezu alles recht. Es ging ihm darum, Tabus zu brechen und Konventionen außer Kraft zu setzen. Die heutige Gesellschaft würde mit Hilfe von Religion zu viel verdrängen, was nur zu Neurosen führen würde, sagte er über seine Ambitionen. Das von ihm erfundene "Orgien-Mysterien-Theater", das er als zeitgenössische Fortsetzung der Erlösungsidee der Menschen verstand, sollte Abhilfe schaffen. Diese oft tagelangen Aktionen mit Tierschlachtungen, Prozessionen und Blutschüttaktionen forderten tatsächlich von Mitwirkenden wie Publikum volle Aufmerksamkeit und einen starken Magen. "Ein Überwinden der Ekelschranke ist Aufgabe der Kunst", sagte er der Deutschen Presse-Agentur vor seinem achtzigsten Geburtstag.
Nitsch galt als Enfant Terrible Österreichs
Ein "Sechs-Tage-Spiel" auf seinem Schloss bildete 1998 den vorläufigen Höhepunkt seines Schaffens. Nach seiner selbst verfassten und 1700 Seiten starken Idealpartitur feierte er mit seinen "Jüngern" ein sechstägiges orgiastisches Happening mit Musikbegleitung und 13.000 Litern Wein. Hunderte Liter Blut wurden verschüttet, kiloweise Trauben und Tomaten zerquetscht und zahlreiche Tierkadaver ausgeweidet. Nitschs Aktionen waren umstritten. Rund 14.000 Menschen unterschrieben 2017 eine Petition gegen eine geplante Performance mit einem frisch geschlachteten Bullen im australischen Tasmanien. Nitsch hingegen sah tote Tiere als heilig an. "Das Fleisch, das ich benutze, wird nicht gegessen, sondern für eine Theaterperformance, also für einen höheren Zweck, genutzt", erklärte er 2015 nach Protesten gegen eine seiner Ausstellungen.
Berüchtigt: Wiener Aktionismus
Hermann Nitsch war Teil des Wiener Aktionismus, einer Gruppe von rein männlichen Künstlern, die durch provokative Kunst die Kunstwelt und die konservativen Kräfte Österreichs erschrecken und schockieren wollten.
Zu den Provokateuren gehörten neben Hermann Nitsch auch Günter Brus, Otto Muehl oder Rudolf Schwarzkogler. Gemeinsam hatten ihre Aktionen, dass sie flüchtig sein sollten. Und dass sie von der Kirche geächtet wurde, wie auch von Tierschützern. Um die Jahrtausendwende änderte sich der Blick auf Nitsch und schlug von Ablehnung in museale Akzeptanz um. Renommierte Ausstellungshäuser und Publikationen zeigten sein Schaffen. Zwei Museen in Mistelbach und in Neapel sind nach ihm benannt. 2005 lud ihn das Wiener Burgtheater ein, bei einer Aktion mit Blut zu planschen, wenn auch Sitze und Wände vorher mit Plastik abgedeckt wurden. Im vergangenen Jahr folgte eine Malaktion auf offener Bühne bei den Bayreuther Festspielen, als Teil einer halbszenischen Produktion von Richard Wagners "Walküre". "Kategorien wie konservativ und modern gibt es für mich nicht. Für mich gibt es nur gute Arbeit und intensive Kunst", sagte er damals in einem Interview vor der Aufführung, die teils heftig ausgebuht wurde. Musik war eine wichtige Inspiration für all seine Arbeiten. Am Montag starb der Aktionskünstler, Maler und Bildhauer im Alter von 83 Jahren in einem Krankenhaus in Mistelbach, in der Nähe seines Schlosses nördlich von Wien.
so/pl (dpa/APA)