Kulturhauptstadt Tallinn
8. August 2011Kreuzfahrtreisende auf der Ostsee lieben die lebendige alte Hansestadt Tallinn. An manchen Tagen machen an den Besucherterminals im weitläufigen Hafen der Stadt vier oder gar fünf der dicken Vergnügungsdampfer gleichzeitig fest. Dann strömen Tausende von Touristen in die verwinkelten Gassen der Altstadt, die im Mittelalter Reval hieß und mit ihrer von 46 Türmen bewachten Stadtmauer eine der wehrhaftesten Festungen Europas war. Erhalten ist vieles, und zwar außerordentlich gut: krumme Kaufmannshäuser, gotische Domkirche und weite Teile der schweren Stadtmauer mit ihren dicken, rot behüteten Wehrtürmen. Die Kreuzfahrttouristen knipsen, kehren zum mittelalterlichen Mittagessen in das Gasthaus Olde Hansa ein und juchzen ununterbrochen und im Chor angesichts von so viel romantischer Schönheit.
Jeder, der Tallinn das erste Mal besucht, konzentriert sich wohl zunächst auf die Altstadt. Auch die junge Münchener Autorin Sarah Portner hat sich zunächst dort umgesehen. Sie hat das Glück, etwas länger bleiben zu dürfen und zieht bei ihren Erkundungen nun immer größere Kreise. "Es wird eigentlich immer schöner und spannender, je mehr ich von der Stadt kennen lerne“, erzählt sie.
Fünf Monate lang hat Sarah Portner dazu Zeit, solange lebt sie mit einem Stipendium des Deutschen Kulturforums östliches Europa als Stadtschreiberin in Tallinn. Mit leuchtenden Augen erzählt sie von immer neuen Einblicken in Estlands lange wechselvolle Geschichte, die von Fremdbestimmung und Besatzung durch Dänen, Schweden, Deutsche und Russen geprägt ist. Sie schwärmt von der Offenheit der Tallinner und von Vierteln jenseits der Stadtmauern, in die sich kaum ein Tourist verläuft.
Ein Kilometer Kultur
Kalamaja ist so ein Stadtteil. Junge Kreative haben die verfallenden alten Holzhäuser dort für sich entdeckt. Und nun, im Kulturhauptstadtjahr, haben sie am Rande von Kalamaja und in der Nähe der Küste einen sogenannten "Kulturkilometer" angelegt. Er verbindet Stellen, an denen Kunst stattfindet, an denen mit ihr experimentiert und gespielt wird.
Gefeiert wird mit Ausstellungen in einem ehemaligen Gefängnis, sogenannten Problempunkten, die kostenlose Gedichte für jede Notlage bereit halten, und natürlich auf der sogenannten "Ökologischen Insel". Das ist ein Ponton im Wasser, auf dem ein alter englischer Doppeldecker steht, es gibt Getränke und Sitzgelegenheiten auf Flohmarktsofas, Umweltlektüre, Sonnenuntergänge gratis und die schöne Möglichkeit, aufs Wasser raus zu gucken. Das muss man in Tallinn nämlich erst wieder üben. Die jüngste Geschichte, erzählt Jaanus Rohumaa, der Programm-Direktor von Tallinn 2011, sei schuld daran, dass die heutigen Bewohner der alten Hansestadt der Küste eher den Rücken zukehren. Denn während der sowjetischen Besatzung war die Küste mehr oder weniger gesperrt. "Da war das Militär und es gab Fabriken. Es war unmöglich, hier einfach segeln zu gehen oder etwas anderes zu unternehmen".
Öffnung zum Meer
Seit Jahren versucht man, das Gebiet immer mehr zu erschließen. Das gesamte Kulturhauptstadtjahr steht denn auch unter dem Motto "Geschichten von der Meeresküste", es hat sich das schon traditionelle "Festival der Tallinner Meerestage" einverleibt, wirbt begeistert für die bevorstehende Eröffnung eines Meeresmuseums in einem Wasserflugzeug-Hangar aus der Zarenzeit, zu bestaunen am Ende des Kulturkilometers, und richtet sogar Kajak-Expeditionen aus, um die Tallinner daran zu gewöhnen, dass sie am Meer leben. Und um sie zu ermuntern, sich mit ihrer Identität auseinanderzusetzen. Die Bevölkerung ist an dem Programm sehr interessiert. Es wird natürlich auch gerätselt, ob manche Projekte jemals realisiert werden können.
Kultur mit Eigensinn
Tallinn verfügt über den wohl kleinsten Etat, mit dem bislang eine Kulturhauptstadt auskommen musste – statt der ursprünglich angesetzten 40 Millionen Euro stehen gerade einmal 16 Millionen zur Verfügung, eine Folge der Wirtschaftskrise. Aber man nimmt es gelassen, hat auf ein paar teure große Stars verzichtet und öfter nationalen Künstlern und Darstellern den Zuschlag gegeben.
Das vermeintlich größte Provisorium des Kulturhauptstadtjahres, das Strohtheater, wurde indes von langer Hand geplant, verrät Intendant Tiit Ojasoo. Das Stroh, aus dem die Wände des Theaters bestehen, sei auf den Feldern Estlands gesammelt worden. Stehen bleiben wird es dennoch nur ein paar Monate, den Sommer, als temporäre Spielstätte, die nicht viel gekostet hat, aus nachwachsenden Rohstoffen besteht und keineswegs leicht entflammbar, sondern wirklich sicher ist und auch noch gut duftet.
Auf der Wiese vor dem Theater darf gepicknickt werden, Zeitungen und ein paar Bücher liegen kostenlos aus. Und jeden Abend wird zeitgenössisches Theater gespielt, von Künstlern und Freien Gruppen, die Tiit Ojasoo und sein Team bei Festivals überall in Europa überzeugt haben. Die Esten sind neugierig auf das, was jenseits des Meeres erdacht und inszeniert wurde, so gut wie jede Vorstellung im Strohtheater ist ausverkauft. Kreuzfahrttouristen trifft man hier freilich nicht, die tanken dreieinhalb Stunden lang mittelalterliche Stadtatmosphäre, stechen dann erneut in See und nehmen sich vielleicht vor, mal wieder zu kommen. Weil sie ja noch längst nicht alles gesehen haben von der Kulturstadt Tallinn.
Autorin: Silke Bartlick
Redaktion: Sabine Oelze