Hilfe für Contergan-Opfer
5. Februar 2013Udo Herterich braucht etwas länger, um seine gesundheitlichen Einschränkungen der vergangenen Jahre zu schildern: "Wachsende Hüftprobleme, Schulterschmerzen, Arthrose. Ich kann keine Faust mehr machen, ich höre schlechter, habe Konzentrationsschwierigkeiten."
All diese Beschwerden sind noch recht neu für den 51-jährigen Rollstuhlfahrer und schränken ihn noch mehr ein. Herterich ist ein sogenanntes "Contergan-Opfer", eins von rund 2700, die noch leben. Er kam ohne Beine zur Welt und mit einem Defekt am Herzen. Seit seiner Geburt leidet er an Nieren- und Gallenschäden. Aber nun macht ihm das Älterwerden schwer zu schaffen. So wie Udo Herterich geht es allen 870 Contergan-Geschädigten, die für eine Studie im Auftrag des Bundestags befragt wurden: Durch das Fehlen von Gliedmaßen werden andere Körperregionen überproportional beansprucht. Jeder dritte der Betroffenen kann nicht mehr arbeiten, ist auf Betreuung sowie medizinische und orthopädische Hilfsmittel angewiesen. Da die Eltern betagt und die Betroffenen oft ohne Partner dastehen, müssen Pflegekräfte angefordert und bezahlt werden.
Den größten Medikamenten-Skandal der deutschen Nachkriegsgeschichte hatte das Pharma-Unternehmen Grünenthal ausgelöst durch das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan, das 1957 auf den Markt kam. Tausende schwangere Frauen schluckten die Arznei. "Bei meiner Mutter war es nur eine Tablette, eine einzige Tablette", sagt Bianca Vogel. Sie wurde ohne Arme geboren, die Hände sitzen direkt an ihren Schultern. Bianca ist eins von geschätzten 5000-10.000 Kindern, die mit schweren Missbildungen zur Welt kamen. Die Ärzte gingen damals von einer Lebenserwartung von unter 20 Jahren aus.
Unfreiwillig verrentet
In Deutschland leben noch etwa 2400 Contergan-Opfer. Sie sind zwischen 50 und 55 Jahre alt und kämpfen zusehends mit den Folgen. So wie Bianca Vogel. Trotz ihrer viel zu kurzen Arme war sie über Jahrzehnte erfolgreiche deutsche Dressurreiterin, sie holte Weltmeistertitel und zwei Silbermedaillen bei den Paralympics. Aber auch sie quälen Schmerzen an Hüften und Knien in Folge der Contergan-Schädigungen im organischen Bereich. Ihren Freund Georg Gloyer plagt das gleiche Handicap: "Ich bin deshalb 2011 unfreiwillig verrentet worden", sagt er.
Die Frage der finanziellen Hilfen für die Contergan-Opfer ist eine schier endlose und tragische Geschichte. 1970 schlossen Eltern, die in Deutschland geklagt hatten, mit Grünenthal einen Vergleich über eine Entschädigungssumme von etwa 100 Millionen Mark. Das Geld floss in eine Stiftung. Die Politik hatte darauf gedrängt und beteiligte sich gleichfalls finanziell. 1997 waren die Stiftungsgelder allerdings aufgebraucht. Seither erhalten die Opfer aus dem Bundeshaushalt finanzielle Unterstützung. Doch diese Förderung reicht nach Angaben Betroffener nicht aus: "Manche von uns leiden Hunger am Ende des Monats", beklagt Niko von Glasow, preisgekrönter Filmemacher aus wohlhabenden Familienverhältnissen und selbst contergan-geschädigt: "Dabei hatte Deutschland noch nie so viele Steuereinnahmen wie heute."
Wissenschaftler drängen auf weitere Zahlungen
Schon längst leben viele Contergan-Patienten nur noch mit starken Schmerzmitteln. Das ergaben Untersuchungen zwischen 2010 und 2012 durch das Gerontologische Institut der Universität Heidelberg im Auftrag des Bundestages über die Versorgungslage der Opfer. "Die knapp 300-seitige Expertise liegt nun den Abgeordneten des Parlaments vor. Sie spricht eine deutliche Sprache. Die Wissenschaftler drängen unter anderem auf eine "substantielle Erhöhung" der Contergan-Rente, die Sicherstellung persönlicher Assistenz und Pflege-Versorgung, die erweiterte Kostenübernahme bei Heil- und Hilfsmitteln und deutlich leichtere und zügigere Antragsverfahren. "Die Politik", meint Udo Herterich, "hat nie damit gerechnet, dass die Studie so negativ ausfällt."
"Die Contergan-Geschädigten können nicht länger auf zusätzliche Hilfen warten", sagt auch der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, der CDU-Politiker Hubert Hüppe. Die Botschaft ist bei der Bundesregierung angekommen. Am Donnerstag (31.01.2013) hat das Kabinett mit CDU/ CSU und FDP beschlossen, 120 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen. An diesem Freitag hat sich der Familienausschuss im Bundestag mit dem Thema befasst. Bis die angekündigten Mittel per Beschluss freigegeben werden, wird es wohl aber noch dauern. Familienministerin Christina Schröder versprach aber eine Entscheidung vor der Wahl im September.