In Niger ist die nächste Katastrophe in Sicht
3. August 2005Als Ute Winkler-Stumpf vor einigen Tagen ihre gewohnte Strecke durch den Süden von Niger fuhr, boten sich ihr in dem westafrikanischen Land apokalyptische Szenen dar. Sie begegnete Menschen, die auf der Suche nach Essbarem junge Pflanzen ausrissen; sah Kinder, die Sand aßen, um ihren Magen zu füllen und traf Bekannte wieder, die seit ihrem letzten Besuch bis auf die Knochen abgemagert waren. "Vor allem die Kleinkinder sind in einem kritischen Zustand", sagt die Vorsitzende der "Hilfsaktion Noma".
Die Katastrophe war absehbar
Seit elf Jahren fährt Winkler-Stumpf alle paar Monate zu den Hilfsstationen der kleinen Organisation, in denen Kinder behandelt werden, deren Gesichter von der Noma-Krankheit zerfressen werden. "Dass eine Hungersnot ausbrechen würde, war mir schon im vergangenen Jahr klar", sagt sie. Damals vernichtete eine Heuschreckenplage das, was die Trockenheit zuvor von der Ernte übrig gelassen hatte. Dass dies im Westen zunächst kaum jemanden interessierte, wunderte Winkler-Stumpf nicht. In dem zweitärmsten Land der Welt gebe es keine Ressourcen, keine Infrastruktur und - bei einem Pro-Kopf-Einkommen von weniger als 200 Euro pro Jahr - auch keinen Markt. "Niger ist uninteressant", sagt Winkler-Stumpf lakonisch, deshalb seien die Warnsignale ignoriert worden.
Die Zeit drängt
Nun drängt die Zeit. Nach UN-Angaben sind bereits 3,6 der 12 Millionen Einwohner von der Hungersnot bedroht. Von den 800.000 unterernährten Kindern sind 150.000 in einem lebensgefährlichen Zustand. Doch die Hilfe läuft nur langsam an. Bislang konnte das Welternährungsprogramm erst 5000 Tonnen Hirse ins Land bringen; weitere 11.000 Tonnen, die längst per Schiff im benachbarten Benin hätten ankommen sollen, werden wohl erst in einigen Tagen eintreffen.
Während inzwischen die Schuldzuweisungen begonnen haben, spricht Christiane Löll, Sprecherin der deutschen Sektion der "Ärzte ohne Grenzen" (MSF) von einem "gemeinsamen Versagen vieler Akteure". Das Welternährungsprogramm habe frühzeitig gewarnt und auch die MSF hätten - gleichermaßen erfolglos - im April auf die Situation aufmerksam gemacht. "Damals hatten wir herausgefunden, dass die Sterblichkeitsrate bei Kindern über der Notfallschwelle lag", sagt Löll.
Das seit 2001 bestehende Ernährungszentrum in der Provinz Maradi habe die Organisation im Verlauf des Jahres um fünf weitere im Land ergänzt. Zudem gebe es 26 ambulante Zentren, in denen Mitarbeiter den Zustand der eintreffenden Kinder überprüfen: Reicht das Maßband am Oberarm nur bis zum roten Bereich, werden die Kinder in die therapeutischen Zentren überwiesen. Bislang seien 14.000 dieser schwer unterernährten Kinder behandelt worden: "Die Kinder müssen mit einer speziellen Nahrung aufgepäppelt werden, weil sie gar nicht mehr auf eine normale Schale Hirse reagieren."
Gegenbeispiel Mali
Dass diese aufwändige Versorgung nötig ist, hätte vermieden werden können, sagt Marion Aberle, Sprecherin der Deutschen Welthungerhilfe: "Wäre frühzeitig eingeschritten worden, wäre man mit der Hälfte der Mittel ausgekommen - und hätte sich den strukturellen Ursachen des Hungers zuwenden können." Ein Gegenbeispiel zu Niger, wo die Regierung das Problem wegen der Wahlen im Dezember 2004 heruntergespielt habe, sei Mali, das ebenfalls in der Sahelzone liegt. "Mali hat frühzeitig eingestanden, dass es nicht reichen wird. Die Nahrungsmittelverteilung hat rechtzeitig begonnen und eine Krise ist ausgeblieben", sagt Aberle. "Es ist ein Kritikpunkt von uns, dass man immer erst tätig wird, wenn die Hungerbäuche sichtbar sind." Die Welthungerhilfe, die in Nigers Provinz Tahoua Lebensmittel verteilt, versuche etwa in Mali und Burkina Faso mit einfachen Projekten den Anbau zu verbessern.
Saatgut als Nahrungsmittel
Vorbeugende Maßnahmen sind auch in Niger dringend geboten. Aufgrund der Not habe die Landbevölkerung in einigen Regionen das Saatgut aufgegessen, erzählt Ute Winkler-Stumpf von der Hilfsaktion Noma, in deren elf Stationen derzeit vor allem unterernährte Kinder behandelt werden. "Die nächste Hungersnot ist deshalb schon vorprogrammiert." Die UN-Landwirtschaftsorganisation FAO rief die internationale Gemeinschaft am Dienstag (2.8.2005) auf, vier Millionen Dollar für Saatgut und Nutztiere zu spenden. Den Bauern in Niger müsse unbedingt noch vor Beginn der Pflanzzeit im Oktober geholfen werden.
Die Eigenversorgung, die dadurch unterstützt werden soll, könne durch die Nahrungsmittelhilfe langfristig Schaden nehmen, da die Hilfe die Marktpreise für Lebensmittel senke, erklärt Marion Aberle von der Welthungerhilfe: "So wichtig es jetzt ist, die Nahrungsmittel zu verteilen, so wichtig ist es, rechtzeitig damit aufzuhören."