Integration geht durch den Magen
26. August 2020Es war 2015, als Samer Serawan und seine Frau Arij zu der bitteren Erkenntnis kamen: In Damaskus konnten sie nicht mehr bleiben. Samer hatte einen Lebensmittel Import-Export betrieben und auch eine Fabrik für Schokoladenmilch.
Sein Unternehmen aber war von einer der vielen bewaffneten Gruppen "gestohlen" worden, die während des syrischen Krieges entstanden waren. "In Syrien ist es schrecklich: Es gibt viele Gruppen - und alle kämpfen" - mehr will der 41-Jährige heute dazu nicht sagen.
Das Ehepaar kam auf dem üblichen Weg nach Deutschland: zuerst in die Türkei. Dort fand Samer ein Boot, das sie nach Griechenland brachte. Schließlich auf der berühmt-berüchtigten "Balkanroute" nach Berlin.
"Ich habe versucht zu vergessen. Aber immer wieder bekomme ich Fragen gestellt, die erneut die Erinnerung wecken", sagt er mit einem traurigen Lachen. "Man muss einen Pakt mit dem Teufel schließen", erinnert er sich an die Menschenhändler, die sie auf dem Weg nach Griechenland fanden. "Wir haben alles benutzt, wir gingen zu Fuß, wir benutzten das Boot, wir benutzten den Zug, den Bus, alles."
Als Samer so zurückblickt, sitzt er in dem "Damaskus Aroma". Letztes Jahr haben Arij und er dieses Restaurant in Berlin eröffnet. Es ist 15 Uhr, ein Mittwochnachmittag auf einer heißen, lauten Straße. Aber die Tische draußen sind bereits alle besetzt. Das Essen - gefüllte Paprika und Weinblätter, gegrilltes Lamm und Huhn, Bulgur und Gewürze aus dem Nahen Osten - ist authentische syrische Küche: so, wie Syrer zu Hause kochen.
"Schreckliche Tage"
Nachdem sie endlich in Berlin angekommen waren, verbrachten Samer und Arij den Winter 2015/16 in einem Hangar auf dem stillgelegten Flughafen Tempelhof. Die riesige Halle hatte die Landesregierung eilig in ein Flüchtlingslager verwandelt, um den täglichen Zustrom an Flüchtlingen zu bewältigen.
In den Hangars wurden aus Trennwänden kleine, mit Etagenbetten ausgestattete "Zimmer" gebaut, in denen mehrere hundert Menschen untergebracht waren. Noch heute gibt es auf dem alten Flugplatz Tempelhof ein Container-Dorf für Flüchtlinge.
Samer verbrachte seine Tage in jenem Winter vorwiegend im Landesamt für Gesundheit und Soziales, kurz: LaGeSo. Das bürokratische Chaos in der Berliner Gesundheits- und Sozialbehörde schuf einige der prägenden Bilder der "Flüchtlingskrise" in Deutschland: Massen von Syrern und Afghanen mussten von Sicherheitskräften zwischen Metallbarrieren zusammengepfercht ab 3 Uhr morgens bis zu 16 Stunden am Stück in einem schlammigen Hof warten.
Kinder schliefen in gespendeter Kleidung, Lebensmittel, Decken und Erste Hilfe wurden von Wohltätigkeitsorganisationen bereitgestellt. Berlins ohnehin schon unterbesetztes und unterfinanziertes Sozialsystem hatte Mühe, sich für den Ansturm zu organisieren. "Es waren schreckliche Tage", erinnert sich Samer an diesen Winter.
Den Berlinern ihre Stadt zeigen
Das Paar lebte in den nächsten Jahren in zwei weiteren Häusern - eines außerhalb der Stadt und ein weiteres im Sozialprojekt Refugio in Neukölln. Dort traf ich Samer und Arij zum ersten Mal: Ich machte einen Rundgang durch den Stadtteil aus der Sicht eines Flüchtlings - eine Initiative der Organisation Querstadtein.
Der Rundgang bot Berlinern eine neue Sicht auf ihre Stadt: Wie sieht die Hauptstadt aus, wenn man ein Neuankömmling ist? Welche Orte sind für Flüchtlinge wichtig? Das war im Mai 2016. Die Präsenz der Syrer in der deutschen Hauptstadt war kaum zu übersehen: Es gab neue arabische Supermärkte, neue Restaurants, viele Geschäfte entlang der belebten Sonnenallee hatten arabische Schriftzüge auf den Fronten.
Unterdessen war ein älterer Begriff wieder in aller Munde: Das Wort "Integration" hatte Konjunktur in den Medien, war wieder ein großes Thema für die politischen Kommentatoren in Berlin. Und kaum ein Tag verging, an dem man sich nicht darüber Gedanken machte, wie die zugewanderten Syrer und Afghanen in die deutsche Gesellschaft "integriert" werden könnten.
Samer hat seine eigene Sicht auf Integration. "Lange Zeit bedeutete es: Die Menschen sollen leben wie die Deutschen. Aber das ist nicht Integration. Integration ist, wenn wir zusammenleben, wenn wir Gemeinsamkeiten finden."
Arbeiten mit den Europäern
Die Neuköllner Spaziergänge waren ein Anfang bei dieser Suche nach Gemeinsamkeiten. "Auf dem Rundgang trafen wir Menschen, zeigten ihnen einige Orte, und danach kam die Idee: Lass mich mit diesen Menschen sitzen, lass uns weiter reden", sagt er. "Sie haben viele Fragen und der Rundgang ist zu kurz."
So begannen Samer und Arij im Refugio ihre "Erzählworkshops" zu veranstalten. Dazu kochten sie syrisches Essen. "Wissen Sie, als ich hier ankam, arbeiteten viele Organisationen mit den Syrern. Aber ich mache das Gegenteil - ich arbeite mit den Europäern, mit den Amerikanern, mit den Menschen, die in dieser Gegend leben."
Er schätzt - und er lacht bei der Erinnerung -, dass weniger als zehn Prozent der Menschen, die zu den Workshops kamen, zuvor je einen Flüchtling getroffen hatten. "Also begannen wir, über dieses Thema zu sprechen: über Flüchtlinge und Integration. Wir bekamen viele Fragen, wir beantworteten diese Fragen", sagte Samer. "Wir sprachen über die Bedeutung von Flüchtling, was sie über Flüchtlinge denken, und wir sprachen über die Situation vor und nach unserer Ankunft hier."
Das Konzept des Restaurants wurde 2019 aus diesen Workshops geboren. Erst vor kurzem wurde es wiedereröffnet, nachdem es durch den Corona-Lockdown fast untergegangen wäre. "Es ist nicht nur ein Geschäft", betont Samer. "Die Leute kommen als Kunden für fünf Minuten hierher. Danach beginnen sie, unsere Freunde zu sein. Sie haben das Gefühl, dass sie bei uns zu Hause sind."