Flucht aus Syrien: Furcht vor Assads Schergen
29. August 2020Mohammed R.* lässt sein Handy nie aus den Augen. Sein ganzer Kampf mit den deutschen Behörden ist dort gespeichert. "Da, ohne Begründung, eine Ablehnung", empört er sich und hat blitzschnell den letzten Brief der Ausländerbehörde gefunden.
Diesmal geht es darum, ob seine jordanische Frau zu ihm nach Deutschland kommen kann. Wenn er diesen Kampf auch noch gewänne, dann wäre endlich fast alles gut.
Flucht aus Syrien 2012
Familie R. lebte in der Nähe von Damaskus in Syrien. Die gläubigen Muslime haben eine liberale Weltsicht. Der Arabische Frühling macht ihnen Hoffnung. Aber es kommt anders. Der Vater und die drei ältesten Söhne - Mohammed ist der zweitälteste - landen im Gefängnis.
Was dort genau geschah, darüber wollen sie nicht reden. Dreimal wird ihr Haus angezündet. 2012 flieht die ganze Familie in den Libanon: die Eltern, beide sind Lehrer, die fünf Söhne und ihre einzige Tochter mit ihrem Mann und den zwei kleinen Kindern.
Deutschland nimmt 10.000 Syrer auf
Um den Libanon zu entlasten, der über eine Million syrische Flüchtlinge beherbergt, sagt die deutsche Bundesregierung im Mai 2013 zu, 5000 Syrer ins Land zu lassen. Im Dezember erhöht sie die Zahl auf 10.000. Mohammed und seine Familie kämpfen darum, in dieses Kontingent zu kommen. Sie besuchen Integrations- und Deutschkurse, lassen alle Urkunden übersetzen.
Dann im Juli 2014 gibt es grünes Licht. Die Familie darf nach Deutschland. Aber nicht die ganze. Da die Tochter verheiratet ist, zählt sie nicht mehr zur Familie - für die Eltern eine Katastrophe.
Als sie in Hannover landen, fühlen sie sich gut vorbereitet. "Ich kannte alle deutschen Bundespräsidenten. Die syrischen hätte ich nicht gewusst", sagt Mohammeds mittlerer Bruder lachend.
Ohne Mohammed läuft nichts
Wir treffen die Familie zum ersten Mal 2015 in der Flüchtlingsunterkunft, in der sie damals in Berlin lebt. Mohammeds Mutter kommt nicht darüber hinweg, dass ihre Tochter immer noch im Libanon ist. Und die Situation wird dort jeden Tag schlimmer. Die ganze Familie ist von Mohammed abhängig. Ständig muss er für jemanden aus der Familie dolmetschen, Fragen beantworten, Formulare ausfüllen.
Der damals 26-Jährige ist der einzige, der Englisch und auch schon ganz passabel Deutsch spricht. Nur manchmal verbessert ihn sein achtjähriger Bruder herablassend. Adil* inhaliert Deutsch, so wie es die meisten Kinder mit Sprache tun. Wenn er seine Familie mal wieder spüren lässt, dass er viel besser Deutsch kann als sie, rufen sie meist im Chor: "Lern du erst einmal Arabisch!"
Kampf mit der deutschen Bürokratie
Während Adil immer häufiger nach dem richtigen arabischen Wort suchen muss, quält sich der Rest der Familie mit Deutschkursen, die schon mal überfüllt sind, ausfallen oder schlecht vorbereitet sind. Es fehlt auch der Kontakt zu Deutschen. "Flüchtlingsunterkunft arabisch sprechen, Gemüsehändler arabisch sprechen, Familie arabisch sprechen", erklärt Mutter Enisa*, als sie durch die erste Deutschprüfung fällt.
In der 50 Quadratmeter großen Wohnung in der Flüchtlingsunterkunft stapeln sich mittlerweile die Ordner: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Ausländerbehörde, Bundesagentur für Arbeit, Schule - die ganze Familie kämpft sich durch Formulare, die auch deutsche Muttersprachler nur schwer verstehen.
Doch alle Anträge auf Familiennachzug für die Tochter scheitern. Diese lebt mittlerweile in Beirut in einem Keller, ein drittes Kind ist unterwegs. Ihr Mann, ein Elektriker, wird oft um seinen Lohn geprellt. Familie R. ist verzweifelt.
Ein gutes Jahr für Familie R.
2017 geht es endlich voran. Familie R. kann in eine eigene Wohnung ziehen. Enisa kocht nun morgens und abends, so glücklich ist sie. Nach anderthalb Jahren Wartezeit bekommt Mohammad Bescheid, dass seine Ausbildung als Medizintechniker hier anerkannt wird. Aber das Beste ist: Die Tochter wird in einem spanischen Kontingent für Flüchtlinge aufgenommen.
Enisa blüht richtig auf. Kaum hat die Tochter in Spanien eine eigene Wohnung, verlässt Enisa ihre neue Küche und sitzt im Flugzeug. Für sie sind die drei Wochen mit den Enkeln pures Glück. Nach drei Wochen kann sie fast besser Spanisch als Deutsch.
Schlechte Erfahrungen mit den Behörden
"Am schlimmsten sind das BAMF und die Ausländerbehörde" - das ist Mohammeds Bilanz. Noch heute empört es ihn, dass man ihm bei seiner Anhörung im Asylverfahren einen Studenten als Dolmetscher vorsetzte. "Das erzählt man nicht jedem, was man erlebt hat, und außerdem wäre der Student nicht einmal zu Verschwiegenheit verpflichtet gewesen." Also findet die Anhörung auf sein Verlangen hin auf Englisch statt, ohne Dolmetscher.
Auch sein ältester Bruder hat ein ungutes Gefühl bei seiner Anhörung. Er hat im Gefängnis sehr viel Schlimmes erlebt und ist sich nicht sicher, ob es der kurdische Dolmetscher korrekt wiedergibt. Sein Asylantrag wird abgelehnt. Mohammed dagegen bekommt politisches Asyl. Und auch auf die Ausländerbehörde ist Mohammed nicht gut zu sprechen: "Die sind unverschämt und unfreundlich und verlangen von uns, zur syrischen Botschaft zu gehen".
Die Angst vor dem syrischen Geheimdienst bleibt
Die Pässe von Familie R. sind seit 2018 abgelaufen. Um sie zu verlängern, müssten sie die syrische Botschaft aufsuchen. Automatisch würden all ihre persönlichen Angaben damit dem syrischen Sicherheitsapparat zur Verfügung stehen.
Freunde und Familienangehörige von Familie R. wären damit gefährdet. Mohammed kann nicht verstehen, dass die Behörden so tun, als gäbe es keinen syrischen Geheimdienst. Auch, dass es für seinen Vater unmöglich war, seine Universitätszertifikate aus Damaskus zu bekommen, ohne jemanden in Gefahr zu bringen.
Und noch heute schüttelt es ihn, dass er zwei Jahre in der Flüchtlingsunterkunft einen Nachbarn hatte, der immer sehr freundlich war. Erst durch die Medien erfuhr er, dass dieser Nachbar eine hohe Position in Assads Sicherheitsapparat hatte und gesucht wurde.
Deshalb kann er auch nicht verstehen, dass Deutschland unkontrolliert seine Grenzen 2015 öffnete. "Wir haben vorher Integrationskurse gemacht, wurden überprüft und durchleuchtet. Und dann können Terroristen, Folterer und Assads Spitzel einfach so herein. Und alle waren auf einmal Syrer?" Von den deutschen Behörden hätte er mehr erwartet.
Der Kampf ist fast vorbei
Mohammed hat inzwischen wieder einen guten Arbeitsplatz in seinem Beruf gefunden und eine neue Wohnung. Sein ältester Bruder ist fast am Ende der Ausbildung und hat den festen Arbeitsplatz danach sicher. Sein Vater wird wohl eine Teilzeitstelle in Mohammeds Firma bekommen. "Ohne Kontakt kann man nicht im Paradies leben", freut sich Mohammed für seinen Vater, der Kollegen sehr vermisst.
Jetzt fehlt nur noch Mohammeds Frau. Vor einem Jahr hat er Amira* aus Jordanien geheiratet. Seitdem kämpft er darum, dass sie zu ihm kann. Erst verlor Mohammed seine damalige Arbeit, dann machte Corona den beiden Jungverheirateten einen Strich durch die Rechnung. Die Ausländerbehörde akzeptiert seinen Widerspruch nicht als Mail. Persönliche Termine gibt es wegen Corona aber auch nicht. Mohammed hofft, dass dies sein letzter Kampf sein wird.
* Alle Namen wurden auf Wunsch der Familie R. geändert. Der Redaktion sind die Namen bekannt.